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Wer ist Mozart?

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Stilisierung ist das, was die Nachwelt jedem Genie antut. Weil Geschichte nicht lebendig zu halten ist und weil man sich anders als durch Stilisierung und Vereinfachung einem Genie nicht nähern kann.
Stilisierung ist das, was die Nachwelt jedem Genie antut. Weil Geschichte nicht lebendig zu halten ist und weil man sich anders als durch Stilisierung und Vereinfachung einem Genie nicht nähern kann. © ddp

Zwischen Harlekin, Spieler und Genie. Eine Auswahl von Neuerscheinungen zum Mozart-JahrEin viertel Jahrtausend nach seiner Geburt sollten Mozarts Leben und Werk, so könnte man meinen, gut erforscht sein. Andererseits muss jede Epoche ihren eigenen Weg suchen und eigene Bibliotheken dazu produzieren. Wir stellen eine Auswahl aktueller Sachbücher vor.

Von TIM GORBAUCH

Das ist sein Jahr. Mit "tsunamihafter Wucht", heißt es bei Kollegen, rollt es auf uns zu: Wolferl, Amadé, Mozart, das Genie, der ewige Kindskopf, der Liebling der Götter wird 250. Die Auswirkungen sind ungewiss. 1991, als man seinen 200. Todestag beging, nannte Michael Gielen das Mozart-Jahr "eine Pest" und empfahl Enthaltsamkeit. Niemand hörte auf ihn, Mozart war allgegenwärtig - und hat es doch überlebt. Auch heute wieder regt sich der elitäre Medien-Reflex, zu seinem 250. Geburtstag, den man nicht nur am 27. Januar 2006, sondern im ganzen Jahr feiert, ganz auf seine Musik zu verzichten. Und wieder wird es nicht so sein. Im Gegenteil, Mozart ist überall: in Buchhandlungen, in Konzert und Oper, im Radio, im Fernsehen, im Internet, in Wien, in Salzburg, in Mannheim und überhaupt in jedem Winkel unseres Lebens. Wahrscheinlich wird er es wieder unbeschadet überstehen.

Mozart, der Unbefleckte

Mozart, so scheint es, trotzt der Übersättigung. Mit Mozart bleibt aber auch die Frage, wie wir uns ihm nähern, wie wir uns an dieses Phänomen herantasten, das in der Geschichte immer wieder verschieden gedeutet wurde. Für Stendhal etwa war er der Ernste, Traurige; für das frühe 20. Jahrhundert, das sich nach Gegenentwürfen zur ausgehenden Spätromantik sehnte, der noble, ebenmäßige Klassiker. Komponisten wie Hans Werner Henze wiederum erkannten in ihm "den herabgestiegenen Gott, Apollo, die Überwindung der Schwerkraft". Das gerann, so ehrlich es auch empfunden sein mochte, bald zum Klischee. Wie ein Heiliger wurde Mozart auf einen entrückten Altar gehoben, von der Prosa des Lebens unbefleckt.

Spätestens die historische Aufführungspraxis, die einen griffigen, zupackenden Mozart forderte, räumte damit auf. Aber auch die Biografen entdeckten neue Seiten: seine notorische Unruhe etwa ("Der Wolfgangerl hat nicht Zeit zu schreiben, denn der hat nichts zu tun, er gehet im Zimmer herum wie der Hund in Flöhen", notiert der junge Mozart selbst) - und natürlich das Ausgelassene, Vulgäre, Frivole. Das war immens heilsam. Simon Rattle etwa erzählte kürzlich die schöne Geschichte, wie erleichtert er war, als er den anderen, den irdischen Mozart entdeckte. "Als Jugendlicher habe ich Mozart mit großer Zurückhaltung und großem Respekt gespielt". Die Furz- und Arschpassagen der Bäslebriefe, die der Chef der Berliner Philharmoniker dann mit Genuss las, "haben mir geholfen, von den Knien hochzukommen".

Mozart, der Ferne

Zugleich aber sagte uns Wolfgang Hildesheimer in seinem machtvollen, aufgeklärten, wenngleich selbst ein wenig in die Jahre gekommenen Mozart-Essay: "Nah kommen wir ihm nie". Und doch wird es wieder und wieder versucht. Die einen pressen ihn gar in ein Lexikon: Mozart von A bis Z. Das muss natürlich scheitern, obwohl es zwei sehr renommierte Mozart-Forscher herausgegeben haben: Gernot Gruber und Joachim Brügge. Überraschend nah kommen wir ihm aber da, wo man nicht von seinem Leben erzählt, sondern allein von seinem Werk. Im von Silke Leopold herausgegebenen Mozart Handbuch wird er nicht spekulativ und auch nicht biographisch verhandelt, sondern anhand musikalischer Gruppen: Opern, geistliche Musik, Sinfonien, Konzerte, Kammer- und Klaviermusik werden separat abgearbeitet, die Autoren von Silke Leopold über Volker Scherliess bis zu Peter Gülke bewegen sich auf geradezu vorbildlichem Niveau. Zugleich entrücken sie nicht in ferne musikologische Höhen, sondern schreiben griffig und immer aktuell - noch neueste Debatten zum Mozart-Bild, auch gerade Inszenierungsfragen der Oper, finden ihren Niederschlag.

Mozart, der Briefschreiber

Wichtiger aber noch ist die grundlegende Entscheidung, die Musik nicht als etwas aus der Biografie Abgeleitetes zu betrachten (wie es immer wieder geschieht), sondern ihr Eigenleben ernst zu nehmen. Fast fühlt man sich darin an Alfred Brendel erinnert, der seit je vergebens für eine strikte Trennung von Kunst und Leben plädiert und sich einen gänzlich anonymen Mozart wünscht. Doch Mozarts Leben ist, Brendels Sehnsucht zum Trotz, ausgezeichnet dokumentiert. Es bietet eine Fülle an Material, gerade auch aus erster Hand. Und wer Mozart entdecken möchte, wer eine Ahnung erhalten will etwa von der Spontaneität, die aus ihm zu bersten scheint, der muss ihn unbedingt selbst lesen.

Beim Bärenreiter-Verlag sind nun die gesamten Briefe und Aufzeichnungen in Taschenbuchform erschienen, ein achtbändiger, reichhaltig kommentierter und mehr als 4000 Seiten umfassender Fundus. Dabei reichen die Dokumente weit über Mozarts Leben hinaus. Den Anfang macht ein Brief von Leopold Mozart an Johann Jakob Lotter vom 10. April 1755, ein letzter Eintrag datiert auf den 31. 12. 1857 und verzeichnet eine Nachricht, die Mozarts Sohn Carl Thomas an Alois Laux schrieb. Dazwischen finden wir vieles aus Wolfgang Amadés eigener Hand, manches flüchtig hingeworfen, manches auch geradezu sprunghaft anmutend, anderes wiederum sehr verspielt, dann wieder selbstbewusst und gerne auch obszön.

Mozart, der Unerklärliche

Mozart tritt uns in vielen Gestalten entgegen und ist doch immer ganz unverwechselbar er. Deshalb auch verwundert es nicht, dass die interessanteste Neuerscheinung zum Mozart-Jubiläum, Martin Gecks ebenso kluges wie eigenwilliges Buch Mozart. Eine Biographie, viel aus den Briefen zitiert. Geck, den man den letzten Generalisten der Branche nennt, riskiert darin eine ausdrücklich subjektive Annäherung, die aber doch nie Gefahr läuft, nur über sich zu schreiben, sondern seinen Gegenstand scharf fasst. Ursprünglich, heißt es, habe er gareinen Komponisten-Roman im Stil Peter Härtlings geplant.

Geck also spricht nicht allein aus der Perspektive des Wissenschaftlers. Was seine mit Illustrationen von F.W. Bernstein versehene und von einer überaus eigensinnigen Diskografie abgerundete Biografie so besonders macht, ist die erzählerische Kraft, die in ihr steckt. Geck hat sich die Fähigkeit bewahrt, sich noch immer von seinem Material überraschen zu lassen. Mit ihm lernen wir das Staunen wieder - auch über das Unerklärliche der Kunst, das man anerkennen kann, ohne abgegriffene Geniemythen zu bedienen. Mit Anselm Kiefer lässt uns Geck wissen: "Die ganze Malerei, aber auch die Literatur und alles, was damit zusammenhängt, ist ja immer nur ein Herumgehen um ein Unsagbares, um ein schwarzes Loch oder um einen Krater, dessen Zentrum man nicht verstehen kann".

Der Mozart, von dem er uns dabei erzählt, kommt gleichwohl ohne jede Verzerrung und ohne alle Legenden aus. Geck findet für ihn gar eine neue Chiffre: die des Harlekins. Der besitze nicht nur die seltene Gabe, "das Schwierige angenehm zu machen", sondern agiere in Freiheit, ein zentraler Begriff in allen Arbeiten Gecks: "Zwischen Bach und Beethoven das große Aufatmen: keine Predigt, kein Bekenntnis, kein Ethos, kein deutscher Tiefsinn, sondern Freiheit. Freiheit des Agierens, des Fühlens, des Denkens (. . .) Mozart hat seine Freiheit komponiert."

Zugleich verweist die Idee des Harlekins auf die Vielfalt Mozarts, die sich keinem Leitbegriff unterordnen lässt: "So wenig wie Harlekin lässt auch Mozart sich entblättern, das heißt auf einen Wesenskern zurückführen, wie dies im Blick auf Bach oder Wagner, selbst auf Beethoven oder Schubert zumindest in Ansätzen möglich erscheint." Gesichtslos, maskenhaft wird er indes nicht: "Es gibt für Mozart keine Differenz zwischen eigenem Charakter und unendlich variablem Rollenspiel. Das macht das Geheimnis seiner Kunst und zugleich seine einzigartige Stellung in der Musikgeschichte aus."

Mozart, der Sohn des Strategen

Wer indes nicht den Atem hat, über 400 Seiten zu lesen, und eine verdichtete Einführung in Leben und Werk Mozarts braucht, der sollte zu Gernot Grubers in der Beckschen Reihe erschienenem Bändchen Wolfgang Amadeus Mozart greifen. Das ist Mozart kompakt, eine kleine, sehr sachliche Biografie, die dennoch von immenser Detailkenntnis getragen wird. Zu den frühen Erfolgen des jungen Mozart etwa vermerkt Gruber nüchtern und vorurteilsfrei: "Mozarts Wunderkind-Ruhm basiert auf seiner staunenswerten Begabung und deren Förderung durch einen strategisch denkenden, klugen und musikalisch sehr kompetenten Vater." Auf den umfangreichen Reisen, die die Mozarts unternahmen, beschreibt er den Erfolg der Kinder Wolfgang und Nannerl schlicht als eine ökonomische Notwendigkeit und hebt hervor, wie gefährdet das Unternehmen in vielerlei Hinsicht (Krankheit, Überschuldung) war und wie sehr das Reisen zugleich das Selbstbewusstsein und den Freiheitsdrang des jungen Mozart stärkte.

Mozart, der Erforschte

Ähnlich fundiert und uneitel argumentiert Ulrich Konrad in Wolfgang Amadé Mozart. Leben. Musik. Werkbestand. Gewissermaßen ist sein Buch die Verlängerung seines kenntnisreichen Artikels in der Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands also und eher ein Fundament für Forscher als für Leser.

Knapper und auch deutlich allgemeiner, dafür fast überreich bebildert erscheint dagegen Mozart. Das junge Genie von Alberto Conforti, der Mozarts Schaffen in Jugend- und Lehrjahre, Übergangsjahre und Reifejahre dreiteilt. Als "Spieler" begreift dagegen Clemens Prokop Mozart und müht sich in seiner Biografie um einen "jungen Blick" auf "die Geschichte eines schnellen Lebens", deren Erzählung ohne wissenschaftliches Vokabular auszukommen versucht. Ein Zugang, der sich als lohnend erweisen könnte, auch wenn er ein wenig eilig hingeschrieben scheint.

Mozart, der Gefühlsmensch

Der Germanist Dieter Borchmeyer denkt da größer. Mozart oder Die Entdeckung der Liebe widmet sich den sieben bedeutenden Opern Mozarts mit einer staunenswerten Gelehrsamkeit und diskutiert sie auf der Folie des "großen Umbruchs im Ehe- und Liebesdiskurs des 18. Jahrhunderts" hin zu einer "Empfindungsgemeinschaft". Dieser Umbruch reicht nicht nur in Mozarts Privatleben hinein - gegen die Widerstände seines Vaters, aber auch seiner Schwester heiratete er Constanze Weber und begründete dies allein aus Liebe ("ich liebe sie, und sie liebt mich vom herzen", schrieb er 1781 an seinen Vater) - sondern affiziert auch die Anlage seiner Opern, die ohne die neue, die "empfindsame Liebe" (im Unterschied zur "galanten") nicht denkbar wären. Strukturell entscheidend ist dabei, dass die Liebe sich im Augenblick erfüllt. Imposant aber ist Borchmeyers Buch auch dank seiner Wissensfülle, die sich mühelos zwischen den Disziplinen bewegt. Und doch spürt man stets: Borchmeyer ist kein Musikologe, seinen Analysen fehlt mithin der Biss im Detail - ein Mangel muss das nicht sein.

Mozart, das Opfer

Kann es aber. Denn die Biografie Wolfgang Amadeus Mozart des italienischen Historikers Piero Melograni dünnt förmlich aus, wenn sie sich der Musik nähert. Dann werden bloß noch Allgemeinplätze jongliert, die kaum noch Bedeutung tragen. Zudem strapaziert er die familiäre Schieflage, die nüchterne Exegeten wie Gernot Gruber gerade mühsam zu versachlichen versuchen. Melograni aber dämonisiert Vater wie Schwester und entwirft so ein doch zu stark zugespitztes Bild, was nicht recht zur der genauen Beschreibung kulturgeschichtlicher Hintergründe passt, die sein Buch umfassend ausbreitet.

Mozart indes kennt auch diesen Widerspruch: "gemeint und geschissen", schrieb er einst, "ist zweyerlei".

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