Motivationssuche
Zwei Psychoanalytiker erforschen das Innenleben ehemaliger IM
Von TILMANN MOSER
"Ob es bei der Zusammenarbeit mit dem MfS (Ministerium für Staatssicherheit) zu psychischen Belastungen kam und welcher Art diese waren, erwies sich als abhängig von den gestellten Aufgaben, der Beziehung zu den observierten Personen, der Kenntnis der Folgen und dem Ausmaß des moralischen Konflikts, den die Geheimtätigkeit verursachte." Dieser trockene Satz enthält komprimiert die grundlegenden Fragestellungen, mit denen die beiden Psychoanalytiker aus dem Frankfurter Sigmund-Freud-Institut an die Aufgaben gingen, in zwanzig mehrstündigen Interviews mit früheren Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS mehr vom Innenleben der riesigen Behörde bzw. ihres "Außendienstes" zu erfahren.
Die wichtigste Erkenntnis: Die Belastungen brachten 15 von 20 bereits aus einer traumatischen Kindheit mit. Die Stasi, mit Hilfe ihrer "operativen Psychologie", hatte ein erstaunliches Gespür für die Gemütslage ihrer anzuwerbenden informellen Mitarbeiter. Das Motivbündel, das zum Verrat inspirierte, erpresste oder verführte, war groß. Sieht man von den "Überzeugungstätern" ab, welche die DDR retten und ausbauen wollten, so ist es immer wieder die Ersatz-Vaterfigur des Führungsoffiziers, die den labilen Mitarbeitern Anerkennung, Geborgenheit und materielle Vorteile verschafft.
Natürlich steht bei allen relevanten Beziehungen der Missbrauch des Vertrauens im Zentrum, und der späte Absturz nach der Wende zwang zu oft schlimmen Lebensbilanzen, in denen als Hauptsatz oft steht: "Ich habe doch niemandem geschadet." Aber es ist sehr wohl viel Schaden angerichtet worden, an seelischer wie sozialer Zerstörung, und dennoch gibt es, folgt man den Autoren, kaum eine Einsicht in die Schuld. Schuld ist das MfS, das die Befehle gab. Wenn etwas in den Vordergrund rückt, so ist es die Scham, dass man sich so lange vom System täuschen ließ oder so lange ideologisch verblendet lebte. Aber im weiten Bereich des MfS herrschte ein paranoides Klima, und es gelang in der Regel, die einzuschwören auf den Glauben an das Böse des Imperialismus oder Kapitalismus, der die DDR mit List und Tücke zu infiltrieren versuchte, so dass dem mit einem stets wachsenden Apparat Einhalt zu gebieten war.
Neben sozialistischem Eifer und Wichtigtuerei spielte auch Erpressung eine gewichtige Rolle, durch Androhung von Strafen oder Nachteilen, oder durch die Verlockung von Hilfestellungen bei der Familie, im Beruf oder bei angeblichen Straftaten, die, wenn abgeurteilt, durch den mächtigen Arm des MfS verkürzt werden konnten.
Die beiden Analytiker bringen ihre handwerkliche Kompetenz mit ein, wenn sie bilanzieren: Dreiviertel der Befragten waren sichtbar von seelischen Defiziten gezeichnet, und die Mitarbeit als IM brachte so etwas wie eine vorübergehende Schiefheilung; denn es waren narzisstisch gestörte oder sich nach bedingungsloser Abhängigkeit sehnende Menschen. Um die Pathologisierung aber nicht den Einzelnen anzulasten, verweisen die Autoren mit Recht auf die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, in der fugenlosen Abfolge von NS-Zeit und Stalinismus- bzw. Sozialismusregime auf gesellschaftlicher Ebene Ich-Stärke, Autonomie und Zivilcourage zu entwickeln. Die jahrzehntelange diktatorische Erfahrung behindere diesen Prozess, der selbst in einer Demokratie schwer fällt.
Die meisten Interviewten, egal ob auf der begeisterten, der erpressten oder hineingeschlitterten Seite, fühlen sich heute mehr als Opfer denn als Täter, oder als öffentliche Sündenböcke missbraucht.
Die Biografie jedes Einzelnen erforderte eine höchst individuelle Beurteilung, weil die vom MfS geführten Akten, die ursprünglich in Verfahren ohne Anhörung des Betroffenen benutzt wurden, oft sehr einseitige Einträge enthalten, die im Interesse des Führungsoffiziers vor seinen Oberen die ideologische Standhaftigkeit und spionierende Zuverlässigkeit des IMs darstellen sollten.
Das Buch enthält zwanzig geraffte Interviews und zwei ausführliche Darstellungen, von Lebenslauf und Engagement zweier IM. Es ist sorgfältig und plausibel gearbeitet und schöpft seine Stimmigkeit nicht nur aus den eigenen Interviews und theoretischen Überlegungen der Autoren, sondern aus einer Art psychoanalytischem Beirat, der in bewährter "rating-Distanz" die Texte sorgfältig durchdiskutiert hat auf mögliche Täuschungen oder eigene Verstrickungen der Autoren. Denn den meisten Interviewten ging es auch um Anerkennung, Verständnis und Sympathie durch die Forscher, und sie bekennen freimütig, dass es nicht immer leicht war, die notwendige Neutralität zu bewahren.