Mitleid adieu
Am Thema Sklavenhandel probt die eurozentrische Geschichtsschreibung Globalisierung
Angestoßen durch die black history, vorangetrieben durch die Arbeiten Edward W. Saids, durch die indischen subaltern studies und die nun auch in Europa boomenden postcolonial studies entsteht gerade eine neue Form von Geschichtsschreibung: die so genannte global history. Diese global history geht davon aus, dass die globale Vernetzung keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern dass sich die Kontakte zwischen Asien, Afrika, Amerika und Europa spätestens seit dem 15. Jahrhundert radikal intensiviert haben. Nimmt man diese Perspektive ernst, kommen nicht nur neue Regionen in den vormals recht eurozentrischen Blick - vielmehr verändert sich auch unsere Vorstellung von europäischer und von nationaler Geschichte. Deutlich wird, wie sehr die Geschichten vieler europäischer, asiatischer, afrikanischer und amerikanischer Regionen miteinander verwoben, ja verflochten sind.
Diese Verwobenheit und damit das Ende der bis dato immer noch tonangebenden nationalen Geschichte wird besonders deutlich, wenn man die Geschichte der Sklaverei betrachtet, so wie das etwa Robin Blackburn mit seinem epochalen Werk The Making of New World Slavery (1997) getan hat. Blackburns Werk liegt leider nicht auf Deutsch vor. Ins Deutsche übertragen wurden nun hingegen zwei andere Werke: Das Sklavenschiff von Robert Harms und die Geschichte der Sklaverei von Christian Delacampagne. Delacampagnes Gesamtschau ist übersichtlich gegliedert, hoch informativ und allgemein verständlich, überdies werden hier längst überfällige Korrekturen an unserem Geschichtsbild vorgenommen. So zeigt Delacampagne etwa, dass es seit 3000 Jahren immer Sklaven gab. Für manche Gesellschaften, wie die des antiken Griechenlands und Roms, war Sklaverei sogar das zentrale Strukturmerkmal, basierte doch die Wirtschaft wie das gesamte soziale Leben auf der Existenz von Sklaven.
Das heißt auch, dass Sklaven einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachten: Im alten Athen etwa waren es genauso wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Süden der Vereinigten Staaten über 30 Prozent. Andere Gesellschaften wie das europäische Mittelalter kannten keine Sklaven, sondern Leibeigene. Schließlich gab es Nationen, wie die europäischen Staaten der neueren Geschichte, deren Existenz etwa seit dem 15. Jahrhundert maßgeblich vom Sklavenhandel abhing, ohne dass Sklaven in nennenswerter Anzahl europäischen Boden betreten haben.
Von den ungefähr elf Millionen Afrikanern und Afrikanerinnen, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts versklavt wurden, sahen kaum einige tausend je Europa. Sie waren Teil eines neuen atlantischen Netzwerks, welches Robert Harms en detail in seinem Buch Das Sklavenschiff. Eine Reise in die Welt des Sklavenhandels beschreibt. Minutiös, sehr anschaulich und nicht ohne erzählerisches Talent rekonstruiert Harms die Fahrt eines Sklavenschiffs, der Diligent, die Schiffseigner und ihre Verdiensterwartungen, die Ausstattung des Schiffes, die Mannschaft und die Bedingungen des Sklavenhandels im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Präzise belegt Harms auch, dass weder die französische noch die englische Gesellschaft (die beiden großen Nationen des europäischen Sklavenhandels ) die Legitimität des Sklavenhandels, und damit die Degradierung der Afrikaner auf den Status einer Ware, im 18. Jahrhundert - dem Jahrhundert der Aufklärung - infrage stellten.
Das Hauptaugenmerk des Buches liegt auf der Reise selbst: Im Mai 1731 lief die Diligent aus dem Hafen von Vannes (Bretagne) aus. Sie war beladen mit aus Indien stammenden Baumwollstoffen -, insbesondere solchen mit Mustern, die an der Guinea-Küste gerade en vogue waren - Kaurimuscheln, die man vor den Malediven gesammelt hatte, einigen Ballen Leinen aus Hamburg, französischem Branntwein und mit allerlei anderen Waren, mit denen die Sklaven eingekauft werden sollten. Das Schiff segelte, an Madeira und den Kanarischen Inseln vorbei, nahe der westafrikanischen Küste bis zur so genannten Goldküste nach Wydah.
Wydah, ein Zwergstaat mit einer Gesamtbevölkerung von vielleicht 100 000 Menschen, der im frühen 18. Jahrhundert um die 20 000 Sklaven jährlich verkaufte, war ein wichtiger Handelsplatz. Hier wurden die im Landesinneren gefangen genommenen Afrikaner und Afrikanerinnen (häufig Kriegsgefangene, zuweilen aber auch von ihrer Verwandtschaft Verkaufte), nachdem sie mit brennenden Eisen markiert worden waren und nachdem die europäischen Handelsunternehmer die fälligen Zollabgaben an den Landesherrscher entrichtet hatten, gegen die Kaurimuscheln und andere Waren eingetauscht. Die Sklaven wurden in den engen Lagerräumen der Schiffe, jeweils mit einer Fußfessel an einen Mitgefangenen gekettet und nach Geschlechtern getrennt, untergebracht. Nachdem über 200 Sklaven auf der Diligent untergebracht worden waren, segelte sie Anfang November 1731 in Richtung Karibik.
Im März 1732 wurde Martinique erreicht. Während der Überfahrt kam es zu massiven Konflikten, nicht nur zwischen Sklaven, von denen eine Reihe starb, und Besatzung, sondern auch zwischen Mitgliedern der Besatzung, die sich auf Grund der Gefahren, die von der See an sich, den Piraten, aber auch den häufigen Seuchen ausgingen, in einer besonders angespannten Lage befanden. Auf Martinique, zu jener Zeit eine französische Kolonie, welche fast ausschließlich vom Zuckerrohranbau lebte, wurden als Erstes Regierungsvertreter an Bord gelassen, die von jeher ein Vorkaufsrecht hatten. Dann kamen die Sklavenhändler, um sich die Gefangenen anzuschauen und Gebote abzugeben. Diese Gebote aber waren niedriger, als der Kapitän erhofft hatte. Auf Martinique nämlich gab es mittlerweile nicht nur ein Überangebot an Sklaven, sondern auch eine lokale Wirtschaftskrise, die mit dazu beitrug, dass der Sklavenpreis erheblich gefallen war.
Kurzum: Trotz mannigfacher Bemühungen gelang es dem Kapitän nicht, die Sklaven mit dem erhofften Gewinn zu verkaufen. Als die Diligent im Juli 1732 Martinique verließ, voll beladen mit Zucker, Baumwolle und Rocou, war man alles andere als zufrieden. Auch die Besitzer des Schiffes, welches schließlich im September 1732 wieder in Vannes anlegte, konnten sich an den Handelsergebnissen nur mäßig erfreuen. Und doch hatte man großes Glück gehabt: Fast die gesamte Besatzung war lebend zurückgekehrt.
Die reich bebilderte und mit zahlreichen Exkursen etwa über die im Sklavenhandel engagierten afrikanischen Gesellschaften, das Leben an Bord, die Plantagenwirtschaft und die wirtschaftlichen Hintergründe des Sklavenhandels ausgestattete Darstellung dieser einen Reise liest sich spannend. Ja, zuweilen wähnt man sich inmitten eines Abenteuerromans, in dessen Mittelpunkt die Besatzung des Sklavenschiffs steht. Und doch: Genau hier, in der Darstellung der Geschichte, in der gewählten Form und Perspektive, in dem präsentierten Ausschnitt und der Art der Präsentation liegen die vielen Probleme, vor denen nicht nur die Studie Robert Harms', sondern auch die Gesamtschau von Delacampagne stehen: Sklavenhandel war mehr als ein Abenteuer von Europäern und auch nicht - wie es Delacampagne suggeriert - einfach ein moralischer Lapsus der westlichen Gesellschaft, der zwar noch nicht überwunden, jedoch immer überwindbarer geworden ist.
Sklaverei und Sklavenhandel sind vor allem ein Beispiel dafür, wie stark die Kontinente miteinander verwoben waren - eine Verwobenheit, die nicht unbedingt nur ein Zentrum hatte. Und genau deshalb kann diese Geschichte nicht aus der Perspektive nur eines Kontinents geschrieben werden, muss der Ausschnitt mit Behutsamkeit gewählt werden und darf die Form der Präsentation weder einem moralisierenden Exempel noch einer Abenteuergeschichte gleichen, in deren Mittelpunkt Europa oder Europäer stehen.
Genau das aber tut Harms, sei es dadurch, dass er fast ausschließlich den Blickwinkel des Kapitäns, der Schiffseigner, des Verfassers des Bordbuches oder der weißen Plantagenbesitzer einnimmt; sei es, dass die einzige afrikanische Gesellschaft, die näher in den Blick genommen wird, ebenfalls fast ausschließlich aus der Perspektive weißer Reisender und Händler rekonstruiert wird und diese Gesellschaften dabei unter der Hand zu genau dem mutieren, was ein Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts folgendermaßen beschrieb: "Der Neger stellt ? den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar ? es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden." So liest man es in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.
Aber auch die vermeintlich sachliche Überblicksdarstellung von Delacampagne ist voller privilegierender Perspektivierungen oder - um mit Edward W. Said zu sprechen - Orientalismen. So wird Sklaverei als eine "Plage der Menschheit" bagatellisiert. Dann wird von "Stammeskriegen" zwischen "Häuptlingen" gesprochen, die "Jagd" auf ihre Nachbarn machten. Weitere Analogien zum Tierreich, hilflose Versuche, komplexe afrikanischen Gesellschaften zu verstehen, finden sich zuhauf. Die damit verbundene Abwertung liegt auf der Hand.
Gravierender vielleicht noch ist der Gestus der Moralität, der beide Werke durchzieht und deutlich signalisiert, wer auf der Seite des aktiven Mitleidens und des passiven Bemitleidetwerdens steht. Harms behandelt mehrmals die Frage, ob ein Kapitän oder ein Sklavenhändler Mitleid mit den Afrikanern hatte; Delacampagne beginnt sein Werk mit dem Geständnis, "Afrika etwas schuldig zu sein". Global history jedoch heißt, nicht die Akteure und Akteurinnen der afrikanischen Geschichte durch Mitleid zu Objekten der Betrachtung zu machen noch Europa zum Subjekt von Schuld. Global history trifft Europa viel schmerzhafter, heißt nämlich vor allem deutlich zu machen, dass Europa nur ein Teil dieser Geschichte ist und es auch andere, durch seine Aktivität ebenfalls geschichtsmächtige Kräfte gibt.
Global history heißt aufzuzeigen, dass die Existenz der Sklaven auf der Diligent, genauso wie die der Besatzung, nicht erst in dem Moment beginnt, in dem sie auf das Schiff kommen. Warum wird der biographische, soziale und kulturelle Hintergrund von Kapitän, Schiffseigener und Bordschreiber genau ausgeleuchtet, während die Afrikaner erst geschichtswürdig werden, wenn sie als Sklaven in Kontakt mit Europäern kommen? Warum wird überhaupt die Geschichte eines Schiffs und nicht die eines Sklaven und einer Sklavin erzählt? Und was hieße es, global history so zu schreiben, dass es wirklich um das Aufzeigen von Netzen und nicht um ein erneutes Ins-Zentrum-Schreiben der europäischen Geschichte ginge. Wie sähe es aus, würden die jüngsten Forderungen der subaltern studies verwirklicht, Europa zu "provinzialisieren" (Dipesh Chakrabarty)?
So wenig klar die Konturen einer solchen Form von global history im Moment auch noch sein mögen, sie allein hätten vielleicht die Möglichkeit, die Vergangenheit und vielleicht sogar die Gegenwart der Globalisierung jenseits von Eurozentriken und Orientalismen zu beschreiben.