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"Mit Adorno durch die Hölle"

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Von: Harry Nutt

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Ausgebombte Berliner stehen in den Trümmern ihrer Stadt, 1945.
Ausgebombte Berliner stehen in den Trümmern ihrer Stadt, 1945. © imago

Der Soziologe Heinz Bude spricht im FR-Interview über Herkunft und Mentalitätshintergrund der 68er-Generation.

Herr Bude, 1968 waren Sie 14 Jahre alt, ein Teenager in Wuppertal. Wie viel Revolte kam dort an?
Der Ort der Revolte hieß Tchibo. Da standen wir Gymnasiasten, keiner aus der Realschule und erst recht keine aus der Hauptschule, stundenlang an den Tischen und redeten über Stücke von Can, über die Tore von Günter Pröpper, über Viscontis „Tod in Venedig“ mit dem Adagietto aus der 5. Symphonie von Mahler darin, über den „Idioten“ von Dostojewski, natürlich übers Fummeln mit und ohne Liebling. Aber das war alles, nachdem ich 1968 mit 14 Jahren an meiner ersten Demonstration teilgenommen hatte. Die ging gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Panzer des Warschauer Paktes. Ich habe nur noch das Bild vor Augen, dass ich als Demonstrant, der mit wildfremden Menschen durch Straßen in Elberfeld ging, von den Leuten an den Fenstern und auf dem Bürgersteig ziemlich merkwürdig angeschaut wurde und ich hoffte, dass niemand mich erkennt. Ich glaube, wir kamen auch am Friedrich-Engels-Haus, dem Hauptquartier der moskautreuen DKP vorbei. Aber ich wollte für den Frühling sein und gegen den Frost.

In einer Kapitelüberschrift Ihres Buches „Adorno für Ruinenkinder“ ist von der letzten heißen Revolution und der ersten coolen Revolte die Rede. Bedeutet das, es ging mehr um Pose als um Politik?
Nein, nicht so einfach. Es gab die SDS-Fraktion, die vertiefte sich in „Geschichte und Klassenkampf“ von Lukács, träumte über die geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin und debattierte mit Adorno über den „versäumten Augenblick“ der Revolution. Das wäre aber ein kleiner esoterischer Zirkel geblieben, hätte es nicht die Masse der Revoltierenden gegeben, die ihrer Sehnsucht nach Welt Ausdruck verleihen wollten. Das Verbindungsglied zwischen diesen beiden ungleichen Gruppierungen war der mysteriöse Begriff der Gesellschaft, der einem erlaubte, sein eigenes, ganz persönliches Leiden zum Maßstab für die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse zu nehmen. Deshalb war das Private politisch, deshalb enthielt 1968 die Lizenz, alles in Frage zu stellen und eine Politik der Ersten Person zu befördern, die Politik, Poesie, Pop und Pose zusammenbrachte. 1968 waren Rudi Dutschke und Fritz Teufel, Uschi Obermeier und Silvia Bovenschen und am Ende Bob Dylan mit dem Nobelpreis für Literatur und Ulrike Meinhof auf dem Bild von Gerhard Richter.

Eine der Kernfragen Ihrer Untersuchungen zur Generation derer, die zwischen 1938 und 1948 geboren sind, lautet: Wie viel 1945 ist in 1968? An einer Stelle sprechen Sie von der abwesenden Anwesenheit von 1945. Was meinen Sie damit?
Ich habe mich gefragt, wie sich die 68er trauen konnten, mitten im bundesrepublikanischen Aufstieg aus der Deckung einfach durchzustarten, ohne zu wissen, was sie wollten und wer sie sind. Die Antwort geht auf den Ursprung einer Kindheit im Krieg zurück. Eine meiner Gesprächspartnerinnen wurde als Fünfjährige im Februar 1945 von ihrer Mutter zusammen mit ihren Geschwistern ohne Begleitung auf den wohl letzten Zug aus Königsberg in den Westen geschickt. Die Mutter wollte den Führer nicht verraten und blieb in der Stadt Kants in der Erwartung der Roten Armee zurück. Das Kind hatte eine Puppenwiege um den Hals mit Handschuhen und Sachen für den Zug nach Nirgendwo drin. Wie kommt man mit so einem Gepäck wieder auf die Beine? Meine Antwort lautet, dass für diese Ruinenkinder Adorno ein Führer durch die Hölle war.

Hat die rasche Radikalisierung, das Umschlagen der Revolte in terroristische Gewalt auch etwas mit den Traumata der Kriegsjahre zu tun?
In gewisser Weise ja. Wer im Krieg auf einem Heimaturlaub des Vaters gezeugt worden ist und in den ersten Jahren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser und brennende Ruinen erlebt hat, hat ein Gespür dafür, dass Gesellschaft auf Gewalt gegründet ist. Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Personen.

Wenn man sich die Alltagsgeschichte der 60er Jahre genauer ansieht, wird man feststellen können, dass die gesellschaftliche Liberalisierung weit vor 1968 begonnen hat. Wird die Wirkung des Aufbegehrens der 68er heute verklärt?
Ich glaube, die ganzen evolutionären Deutungen von 1968 führen in die Irre. Da hat nichts begonnen, was es vorher nicht schon gab. Weder die sexuelle Revolution noch die Demokratisierung der Gesellschaft und vor allem nicht die Konfrontation mit Auschwitz. Der Kinsey-Report und Oswalt Kolle, die Lehre der sozialen Demokratie und das Betriebsverfassungsgesetz, der „SS-Staat“ von Eugen Kogon und die Courage von Fritz Bauer. Diese Suche nach dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Trend verdeckt die Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, aus radikaler Reflexion und rebellischem Elan, aus politischem Dadaismus und existenziellen Ausbruchsversuchen, die für die Bresche von 1968 kennzeichnend waren. Glaubten die 68er an ihre Mythen? Wenn sie auf der Straße riefen „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!“, Ja; wenn sie abends auf leeren Bürgersteigen als dürre Gestalten in ihren Schlaghosen und Fransenjacken nach Hause gingen, Nein.

Eines der wesentlichen Merkmale der 68er-Bewegung war deren Theoriefixierung. Viele der einst heiligen Texte jener Jahre scheinen heute seltsam überholt und vergessen. Was hat Bestand?
Von der Masse der Bücher, die die 68er selbst dann über Ideologiekritik, Wertformanalyse, Klassengesellschaft und Warenästhetik geschrieben haben, bleibt kaum etwas. Die wichtigen Bücher von 1968 kamen danach und werden auch in fünfzig Jahre noch Leserinnen und Leser finden: Claus Offes „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ von 1972, Klaus Theweleits „Männerphantasien“ von 1977/78, Horst Kern und Michael Schumanns „Das Ende der Arbeitsteilung?“ von 1984 oder Friedrichs Kittlers „Aufschreibesysteme 1800/1900“ von 1985. Und natürlich Hans-Jürgen Krahls geheimer Klassiker „Konstitution und Klassenkampf“ aus dem Jahr 1971.

Sie versuchen, sich 1968 auch anhand dessen zu erklären, was übersehen wurde. Was war das?
Ich bin noch einmal die Interviews durchgegangen, die ich vor dreißig Jahren mit 68ern der Jahrgänge 1938 bis 1948 geführt habe. Da war der Punk schon Geschichte und der Mauerfall noch keine Zukunft. Im Abstand hat sich für mich gezeigt, dass 1968 eine ziemlich einzigartige Episode kollektiver Leidenschaft und existenzieller Emphase war. Die letzte Generation, die noch den Krieg erlebt hat, hat 1968 sich selbst und der Gesellschaft des Nachkriegs vor Augen geführt, wie dünn das Eis und wie verworren die Zustände sind. Für die Kriegskinder war das Leben, wie der 1940 im selben Jahr wie Rudi Dutschke geborene Rolf Dieter Brinkmann gesagt hat, eine einzige Entschuldigung dafür, dass sie überhaupt geboren worden waren. Das ist der Hintergrund für die ungeheure Kompromisslosigkeit, mit der sie sich 1968 gegen die Gesellschaft gestellt haben, die sie als die Kräfte von morgen begrüßen wollte. Die 68er waren eine junge und starke Generation, die Ernst damit gemacht hat, dass Fortschritt ohne Unterbrechung nicht möglich ist.

1968 wird heute nicht nur als historisches Schlüsseljahr betrachtet. Rechte Ideologen scheinen ihre Vorstellungen von 1968 geradezu konservieren zu wollen, um ein klares Feindbild zu haben. Sind Höcke und Co. die letzten Kinder von 1968?
Die Paradoxie ist, das die kulturmilitante Rechte 68 für etwas anklagt, was sie selbst in Anspruch nimmt. Es ist offenbar nach wie vor schwierig zu verstehen, wie die Gewinne von 68 mit ihren Kosten zusammenhängen.

Trotz aller Skepsis endet Ihr Blick auf die 68er auch versöhnlich. Sie erkennen in der Suche nach Linkssein bei den Jungen von heute auch ein Erbe von 1968. An was können sie anknüpfen?
Anknüpfen ist nicht das richtige Wort. Den 68ern ging es um Befreiung, der antirassistischen, postkolonialen und transimperialen Linken von heute geht es um Gerechtigkeit. Das ist nicht dasselbe. Das Schema der Gerechtigkeit will Anrechte erweitern und vertiefen, der Wunsch nach Befreiung will das Ganze in Bewegung bringen. Das Erbe von 68 besteht in der Verwunderung darüber, dass das vor 50 Jahren für einen kurzen Moment aus einem irren Antrieb gelungen ist.

Interview: Harry Nutt

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