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Milena Michiko Flašar: „Oben Erde, unten Himmel“ - Alleine sterben unter Menschen

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Von: Cornelia Geißler

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Milena Michiko Flašar. Foto: Helmut Wimmer
Milena Michiko Flašar. Foto: Helmut Wimmer © Helmut Wimmer

Milena Michiko Flašar erzählt auf berührende Weise vom Leben in den Städten der Gegenwart

Suzu, die Erzählerin, deutet mit dem ersten Satz schon eine Veränderung an: „Ich war gerne allein.“ Wir wissen damit, dieses Alleinsein geht entweder vorüber, oder es wird nicht mehr angenehm sein. Es lohnt sich, bei Milena Michiko Flašar genau auf die Aussagen der Sätze zu achten. Sie gibt Suzu einen analytischen Blick. Die Distanz, mit der sie anfangs nicht nur über ihr Umfeld, sondern auch über sich selbst erzählt, als wollte sie sich in Einzelteile zerlegen und wegsortieren, bewirkt eine seltsame Faszination: Diese Kühle macht neugierig und ist doch unbehaglich.

Suzu, die ihre Arbeit als Kellnerin pflichtbewusst erledigt hatte, wird wegen mangelnden Liebreizes gekündigt. Und der Mann, den sie mehrfach getroffen hatte, ist auf einmal von der Dating-Plattform verschwunden. „Ich hatte erstens eine Beziehung geführt, die keine gewesen war, und zweitens war mir bescheinigt worden, dass ich ein Loser war. Ein Assi. Ein Freak. Waren da irgendwelche Kameras, die mich filmten?“ Das grob nach den Jahreszeiten „Winter, Frühling“, „Sommer“ sowie „Herbst und wieder Winter“ unterteilte Buch erzählt fortan von einer Lebensphase voller Veränderungen. Auch der Titel „Oben Erde, unten Himmel“ deutet an, dass sich Verhältnisse wenden werden.

Ihre Distanziertheit macht Suzu zur idealen Kandidatin für den nächsten Job. Der Chef entscheidet sich schon im ersten Gespräch für sie – als Leichenfundortreinigerin. Diese Arbeit bildet die Grundlage dafür, dass sich der Roman zu einer vielschichtigen Analyse einer Gesellschaft der Vereinsamung und Vereinzelung entwickelt, er wird nach dem deprimierenden Beginn immer offener. Suzus Veränderung dabei ist behutsam, zuweilen mit Selbstironie erzählt.

Die in Wien lebende Autorin führt nicht zum ersten Mal mit einem Roman nach Japan; das Land ist ihr durch ihre Mutter vertraut, die von dort kommt. In der nicht weiter bezeichneten Großstadt leben die Menschen aneinander vorbei, wissen kaum etwas voneinander. Und so deuten auch die Wohnungen Verstorbener auf Verlassenheit. Der würdevolle Umgang mit den Schauplätzen erzählt viel über das Team, das zum Einsatz kommt, wenn Geschichten zu Ende sind. Es gilt, die Wohnungen wieder nutzbar zu machen. Todesspuren und der Staub der Zeit müssen verschwinden. Und ohne die Menschen erlebt zu haben, lernt die kleine Gruppe die Toten kennen.

Flašar hebt einzelne Fälle heraus. Aus den oft etwas ungelenken Gesprächen Suzus mit ihren Kollegen kommen nach und nach mehr Aspekte sozialer Isolation hervor. Sorgfältig mit einigen wenigen japanischen Begriffen und Eigenheiten bestückt, die im Anhang erklärt sind, erzählt der Roman von der Möglichkeit, sich aus der Anonymität zu wagen, ohne leutselig zu werden. Flašar hält da bewundernswert die Balance.

„Kodokushi“ ist das Wort

Das wichtigste japanische Wort im Roman steht für ein gesellschaftliches Phänomen, das Suzus Arbeit erst notwendig macht: „Kodokushi“. Das ist das Sterben von Menschen in sozialer Isolation, deren Leichen oft lange Zeit unentdeckt bleiben. Der Geruch oder der volle Briefkasten machen auf den einsamen Tod aufmerksam. Herr Sakai, Suzus Chef, erklärt ihr das Schlüsselwort in einem Dialog. Während Frauen oft quatschten, „um den Stress loszuwerden, der sich im Laufe des Tages bei ihnen angesammelt hat“, neigten Männer dazu, „den großen Macker zu markieren“. Sobald es emotional werde, igelten sie sich jedoch ein. „Es ist deshalb kein Zufall, dass die meisten Kodokusha dem starken Geschlecht angehören.“ Und so kommt es, dass manche allein lebende Männer zu Lebzeiten selbst die Fundortreiniger beauftragen.

Das Buch

Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Roman. Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 302 Seiten, 26 Euro.

Einmal lässt sich Sakai auf die Begleitung durch ein Fernsehteam ein, in der Hoffnung, die Öffentlichkeit für die Kodokusha zu interessieren. Wie groß ist die Enttäuschung, als klar wird: nur Sensationsgier trieb die Reporter. Die Geschichte von einem geistig behinderten Jungen, der neben seinem toten Vater ausharrt, erzählt davon, wie der Mann zuvor verzweifelt versucht hat, selbst für sein Kind zu sorgen. Wie ein Querulant hat er sich „aus dem System“ zurückgezogen. Er ist selbst im Heim aufgewachsen und wollte diese Erfahrung nicht weitergegeben wissen.

Bei Suzu beginnt hier die Schale um ihre Gefühlswelt aufzubrechen, sie erinnert sich an den Tod ihres Großvaters. Was jedoch nicht bedeutet, dass die Autorin ins Plaudern verfiele. Ihre sachliche Sprache wechselt von starken Vergleichen in sanftere Bilder. „Einen Moment lang verlor ich die Orientierung. Oben und unten, Himmel und Erde. Der Regen war eine Wand aus Schnüren. Er verband Himmel und Erde miteinander.“ Dieser Eindruck wird sich später in einem Gespräch mit Sakai wiederfinden, wenn er Suzu erklärt, warum er die Firma gründete. Das ist der Moment, da er sie auch bittet, auf den sensiblen Kollegen achtzugeben, der mit ihr angefangen hat.

„Oben Erde, unten Himmel“ spielt in Japan, was man an Bräuchen erkennt, am Essen und an der Extremform des Wohnens in winzigen Schachteln. Und doch erzählt der Roman von der Beziehungsarmut in den Städten überhaupt. Wenn die Erzählerin konstatiert, „Krankenbesuche gehörten in eine Zeit, in der man sich seitenlange Briefe schrieb“, während man heute per Handy fragt, ob man vorbeikommen solle und das Nein einrechnet, dann weist das nicht nur auf die Pandemie.

Was andere übersehen

Suzus Kollege Takada, die dritte wichtige Person im Kosmos dieses Buches, scheint so gar nicht ein Fall für das Einsamkeitsproblem zu sein. Er beobachtet seine Umwelt aufmerksam, macht sich ständig Notizen. Er sammele Wörter, sagt er, „ich angele sie aus den Mündern der Leute heraus“. Von den rund 17 000 Wörtern, die der Mensch am Tag spreche, seien die meisten Lückenfüller, doch einige verdienten es, festgehalten zu werden.

Takadas Funktion innerhalb des Romans ähnelt der eines Buches wie diesem innerhalb der Gesellschaft. Milena Michiko Flašar setzt die Worte mit Bedacht, sie hält fest, was andere übersehen, sie pustet etwas Wärme in die Gefühlskälte. Und so bleibt von dem Roman, in dem Menschen unter die Erde gebracht werden, ein heller, belebender Eindruck.

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