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Michael Sollorz „Zeit der Kräne“: Der Dachdecker im Swingerclub

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Von: Ulrich Seidler

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Sie laufen sich an eine,m Berliner Backshop über den Weg.
Sie laufen sich an eine,m Berliner Backshop über den Weg. © imago images/Frank Sorge

Was die Gentrifizierung übrig ließ: Michael Sollorz’ Berlin-Roman „Zeit der Kräne“

Daniel ist 22 und ein hübscher Dachdecker, er verdient und kaut seine Backshop-Brötchen in einem Gentrifizierungshotspot in Friedrichshain. Eigentlich lebt er weiter draußen in einer bescheidenen Plattenbauwohnung mit Flachbildfernseher für den gepflegten Pornokonsum. Wenn er nicht bei seiner neusten Eroberung übernachtet, die auf der Durchreise nach New York ist und in ihrer durchdesignten Eigentumswohnung in Prenzlauer Berg vorher noch schnell ihre zweite Doktorarbeit zu Ende hackt: Marie.

Sie lief Daniel an seinem Stamm-Backshop Liebig-/ Ecke Rigaer Straße über den Weg, wo er die Flachdächer der Neubauten, Wohneigentum der gehobenen Preisklasse, deckt. Maries Freundin ist Hausbesetzerin in Pferdegestalt. Maries Bruder ist auch noch mit von der Partie und kümmert sich um die Drogen, etwa wenn Marie Daniel mit in den Swingerclub nimmt, was nicht gut ausgeht. Berlin macht keine der genannten Figuren glücklich, und auch keine andere aus Michael Sollorz’ neuem Buch. „Zeit der Kräne“ ist ein Roman, dessen nicht mehr ganz junger Erzähler das Geschehen verpasst hat, weil er im Gefängnis sitzt.

Da trifft es sich dann doch ganz gut, dass Daniel verhaftet wird und bei dem Erzähler in der Doppelzelle unterkommt. Es findet eine Art Deal statt. Der Erzähler, der auf eine Karriere als Erotikliterat zurückblickt, darf Daniels Geschichte verarbeiten und extemporiert dafür erotische Gute-Nacht-Geschichten als Pornoersatz. Daniel fragt den Spezialisten, was er über die Liebe wisse und bekommt diese Definition zur Antwort: „Kann sein, das kleine Ding hat die Nase voll von uns. Es kauert hinter der Scheuerleiste, in dieser engen, staubigen Ritze. Und falls es sich je wieder hervorwagt, fressen es die Wollmäuse auf.“ Das ist schön gesagt, und man atmet auf, weil Berlin noch nicht ganz von einer Silikonschicht überzogen ist und sich hier und da noch Scheuerleisten und Dielenritzen finden, oder?

Das Buch:

Michael Sollorz: Zeit der Kräne. Roman. Quintus, Berlin 2023. 248 Seiten, 22 Euro.

Oder nur ein Hirngespinst?

Die Erzählperspektive ist aufwendig konstruiert, aber vielleicht ist das auch nötig. Denn die Hauptfigur ist zwar ein halbwegs guter Kerl mit gebremster Emotionsbereitschaft und verfügt über den gesunden Menschenverstand eines prätentionslosen Urberliners, aber eben dies allein macht ihn noch nicht interessant. Manchmal gerät Daniel sogar so blass, dass man glaubt, es handle sich lediglich um ein halb durchscheinendes Hirngespinst des inhaftierten Erzählers, der seine verlorene Jugend kompensiert und einen Avatar in die erotischen Abenteuer und Klassenkämpfe schickt, zu denen er sich selbst nicht mehr aufraffen mag.

Vielleicht hätte Sollorz, der vor sechzig Jahren in Ost-Berlin zur Welt kam, selbst Dachdecker war und sich heute ins Brandenburger Land zurückgezogen hat, doch einfach direkter von seinem Leben erzählen sollen als sich hinter Gitter zu bringen und derart einzubasteln? Umso zusammengesuchter wirken die Geschehnisse und Handlungen des Romans, der sich in langen, kursiv gesetzten Zwischenkapiteln wieder auf seine Erzählsituation hinter schwedischen Gardinen besinnt. Eine innere Flucht ist eben kein Ersatz für das richtige, gefährliche, liebende Leben. Und ob Berlin für letzteres noch ein geeigneter Ort ist, bleibt dahingestellt. Da hat er schon recht.

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