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„Massen in Bewegung“ von Karl-Heinz Göttert: Monumente der Solidarität

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Von: Harry Nutt

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Stonegehenge erreichten die Menschen über eine „heilige“ Straße. Foto: Afp/Carl De Souza
Stonegehenge erreichten die Menschen über eine „heilige“ Straße. Foto: Afp/Carl De Souza © afp

Was haben die politischen Montagsspaziergänge mit kirchlichen Prozessionen zu tun? Eine ganze Menge, findet der Germanist Karl-Heinz Göttert.

Obwohl Marx und Engels gleich zu Beginn ihrer berühmten Schrift „Das kommunistische Manifest“ ein Gespenst ausgemacht haben, das umgeht in Europa, interessieren sie sich nicht für Geister. Vielmehr meinen sie ein Schema erkannt zu haben, das später auf beinahe religiöse Weise zur Welterklärung und Weltgestaltung herangezogen wurde. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“, schreiben sie emphatisch, „ist die Geschichte von Klassenkämpfen“.

Beispiele gefällig? „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell“, so fahren Marx und Engels fort, „kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“

Ihre Sogwirkung beziehen diese Zeilen aus der verblüffenden Einfachheit des Gedankens. In den Jahrtausenden, in denen Menschen und Völker zusammenlebten, nichts voneinander wussten oder Kriege gegeneinander führten, schienen sie immer gleichen Gesetzen ihres Daseins gefolgt zu sein. Wie hatte man diesen simplen Mechanismus so lange übersehen können?

Wenn Einfachheit ein bedeutendes Merkmal für geschichtliche Prozesse ist, dann ist der Germanist und Schriftsteller Karl-Heinz Göttert der Komplexitätsreduktion von Marx und Engels um einiges voraus. In seinem Buch „Massen in Bewegung“ hat er einen universellen Aspekt des menschlichen Handelns herausgearbeitet, der wie kaum etwas die Kulturgeschichte der Menschheit geprägt und forciert hat: das Gehen in Gemeinschaft.

Der Steinring von Stonehenge, so legt Göttert nahe, ist ein frühes Monument der Solidarität, das erst durch gemeinsames Handeln entstehen konnte, und es ist ein Ort, an dem Menschen sich versammelten. „Den Steinkreis erreichten sie auf einer für gemeinsames Schreiten geeigneten, irgendwie ,heiligen‘ Straße – warum soll man das nicht als Prozession bezeichnen, eine der frühesten, für die es immerhin ein archäologisches Zeugnis gibt?“ Im gemeinsamen Gehen glaubt Göttert zugleich eine Nachahmung der Sonne zu erkennen, die langsam und gleichmäßig ihre Bahn zieht.

Karl-Heinz Göttert ist kein Autor steiler Thesen. Eher betätigt er sich als akribischer Sammler von Ähnlichkeiten, die seine Aneinanderreihung von Phänomenen des gemeinsamen Gehens als eine Art Kulturgeschichte der Prozession erscheinen lassen, deren Bedeutung stark vom Kontext abhängt, in dem Massen sich fortbewegen. „Prozessionen drücken immer etwas aus, aber nicht immer dasselbe. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte der Menschenzüge ist eine Geschichte der Variationen über das Thema ,Gehen‘.“

Das Buch

Karl-Heinz Göttert: Massen in Bewegung. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 440 Seiten, 44 Euro.

In religiösen Kontexten liegt der Fokus auf der Ausübung gemeinsamer Handlungen. In Griechenland werden die Kulte für Athene, Dionysos und Demeter in Verbindung mit Prozessionen gefeiert. Immer mehr aber werden die Feste, zu denen Menschen Formationen des Fortschreitens bilden, zur Zurschaustellung der Polis. Die Repräsentation der Stadt, so Göttert, bedient sich des Mediums der Straße, das auf perfekte Weise das angrenzende Territorium mit einbezieht. Diese Form der demokratischen Selbstwahrnehmung ist jedoch nicht vor Übernahmen gefeit. Aus der Feier der Gemeinschaft werden Triumphzüge der Herrschaft, in denen die Eroberungen zur Schau gestellt und die Eroberten gedemütigt werden.

Es beschert ein anhaltendes Lesevergnügen, wie Göttert die Geschichte der Griechen, Römer und Christen unter seinem besonderen Blick für Massen in Bewegung neu sortiert. Waren die kirchlichen Prozessionen einst gegen den weltlichen Vorgänger gerichtet, so tendieren sie später in schwärmerischer Überbietungslust, etwa der Reliquienverehrung, aus dem Ruder zu laufen. Im Mittelalter kehren sie schließlich als Ausdrucksform der städtischen Repräsentanz zurück und werden zu selbstbewussten Paraden der jeweiligen Bürgerschaft, fein säuberlich nach Geschlechtern, Zünften und Bruderschaften getrennt.

Göttert versieht die Beschreibung der jeweiligen Festformationen mit feinem Gespür für Veränderungen. „Das Spätmittelalter entdeckt die religiöse Prozession als ,Schmiermittel‘ politischer Herrschaft.“ Aber die Prozessionen vereinigen die Sakralgemeinschaft nicht nur, sie spalten auch: „Die konfessionellen Auseinandersetzungen fanden in ihnen geradezu ideale Instrumente.“

Aus Prozessionen werden Demonstrationen, und die erst kürzlich wiederentdeckten politischen „Spaziergänge“ durch Impfgegner und andere beziehen sich in ihrer demonstrativen Harmlosigkeit auf Jahrhunderte alte Traditionen. Im Karneval wird der Reichtum der Ausdrucksformen erweitert, aber in der eingegrenzten Zeit des Rausches und der sozialen Umkehrung sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse auch stabilisiert werden.

Die Geschichte der Menschenzüge ist die einer oft vernachlässigten Körperlichkeit, zu der Karl-Heinz Göttert eine Art erzählerischer Grammatik anbietet. In einem Nachwort verweist er darauf, dass er massenpsychologische Untersuchungen, etwa von Gustave Le Bon, mit Bedacht außen vor gelassen hat. Elias Canettis „Masse und Macht“ schlägt er ebenfalls dem Spektrum von Analysen der modernen Psyche zu, die er nicht im Sinn hat. Das ist schade, denn insbesondere in Canettis Blick auf die Wirkungsweisen von Massen, deren Bedürfnisse zu wachsen und deren Überdauern durch Langsamkeit, hätte Göttert weitere Anregungen gefunden, die Aufmerksamkeit für das Gehen in Gemeinschaft als anthropologische Konstante zu schärfen. Canetti war es auch, der die Massenbildung in den Religionen und Mythen der Welt im Blick hatte, während sich Göttert doch weitgehend auf eine europäische Kulturgeschichte beschränkt.

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