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„Leben mit Exil“: Masha Gessen über Menschenrechte

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Von: Hanno Hauenstein

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Masha Gessen im Januar auf dem Podium des Sundance Film Festivals in Utah.
Masha Gessen im Januar auf dem Podium des Sundance Film Festivals in Utah. © Ernesto Distefano/Getty Images/AFP

„Leben mit Exil“: Wenn Masha Gessen über Migration spricht, spricht sie Menschenrechte an.

Wir sagen vielleicht, dass die Menschenrechte uns allen zustehen, weil wir Menschen sind“, schreibt die russisch-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Masha Gessen in ihrem aktuellen Buch „Leben mit Exil“, „aber in Wahrheit können nur Menschen ihre Rechte einfordern, die auch Bürger sind. Wenn Menschenrechte ein Attribut des Menschseins sind, dann müssen wir uns der Tatsache stellen, dass vielen Millionen Heimatlosen ihr Menschsein aberkannt worden ist.“ 

Im Echo dieser und vieler weiterer Zeilen klingen die Überlegungen von Hannah Arendt zu Exil und Totalitarismus an. Sie grundieren Gessens Schreiben und blinken darin grell auf. Der Kontext ist eindeutig: Es ist die Ära Trump, es sind die Bilder getrennter Familien an der Grenze der USA. Breiter gefasst ist es das, was Gessen als „Trump-Verschiebung“ bezeichnet: Eine Verlagerung des Sprechens über Migration in einen Bereich des Verdachts, in dem der „illegale Grenzübertritt“ ein Synonym für Asylsuche geworden ist und „Karawane“ als normale Bezeichnung für Geflüchtete gilt.

Masha Gesen: Ihre Texte haben über den US-Sprachraum hinaus Gültigkeit

Obwohl Gessens Texte den US-Sprachraum behandeln, haben ihre Beobachtungen darüber hinaus Gültigkeit. Vokabeln wie „Flüchtlingswellen“ oder „Asylbetrüger“ zeigen, wie die Rhetorik der Entmenschlichung auch das deutsche Sprechen geprägt haben – in der Berichterstattung wie im politischen Alltag.

Gessen versucht, dem ein Sprechen über die Alltäglichkeit der Migration entgegenzusetzen, eines, das das Fremde nahbar macht. „Man kann nur ein bestimmtes Maß an menschlichem Leid an sich heranlassen“, schreibt sie, „sonst läuft alles ineinander.“ 1967 in Moskau geboren, immigrierte sie mit ihrer Familie 1981 in die USA. Sie erzählt von ihrer Identitätsfindung als Jugendliche, vom „Kribbeln“ der Zugehörigkeit – einem Gefühl, das sie sowohl beim Klang hebräischer Lieder im Kreis jüdischer Kulturaktivisten in den Wäldern von Moskau empfand als auch auf ihrer ersten queeren Tanzveranstaltung in Yale – knapp ein Jahr nach ihrer Ankunft in den USA. Ob es ihr besser gefalle, Russin in Amerika zu sein oder Amerikanerin in Russland, wurde sie einmal gefragt, als sie für ein Jahr nach Moskau zurückkehrte. „Es dauerte viele Jahre, bis es mir gefiel, überall, wo ich war, nicht dazuzugehören“, schreibt Gessen.

In einer Art Karteikarten-System hält sie die Geschichten Geflüchteter in Kurzporträts fest, rund 60 Menschen, die sie in Osteuropa und Ländern des nahen Ostens kennenlernte. Es sind Momentaufnahmen, die die Grausamkeit eines Alltags auf der Flucht zeigen. Darin liegt, was Gessen als „Synkope“ der Immigration bezeichnet: eine Veränderung im Rhythmus, ein unbetonter Vokal, ein unvorhergesehener Bruch mit einem vermeintlich ausweglosen Schicksal.

Da ist etwa die Geschichte Abdullahs, der in Tschetschenien wegen seiner Homosexualität gefoltert wurde. Zum Interview mit Gessen zieht er sich hochhackige Schuhe an – ein flüchtiger Moment von Freiheit. Oder die Geschichte von Anastasia Schimanski, die mit elf Jahren mit ihrer Mutter in die USA floh und dort die Diagnose einer degenerativen Erkrankung erhielt. Schimanski musste mehrfach operiert werden und wurde von Opioid-Schmerzmitteln abhängig. Wie Hunderttausende andere Amerikaner wechselte sie bald zu Heroin. Wegen der Fälschung eines Schecks über 40 Dollar entzog man ihr den Aufenthaltsstatus. Schimanskis Anwältin ging in Berufung. Sie argumentierte, ihre Mandantin schwebe als lesbische Frau in Russland in akuter Lebensgefahr. Die Familie spekulierte, dass es Gessens Anwesenheit im Gerichtssaal war, die zum Erfolg der Berufung führte.

Die Art, wie Gessen ihre eigene Rolle hinterfragt, ist paradigmatisch für die Wechsel von Nähe und Distanz in ihren Geschichten. „Eine Abschiebung wurde verhindert“, schreibt sie, „vielleicht waren es glückliche Zufälle, aber wir wissen, dass die Bürokratie sensibel auf Macht reagiert. Ich habe Macht, weil ich für den New Yorker schreibe.“

Ihr Jüdisch- und ihr Queersein ziehen sich als rote Fäden durch die Texte. Etwa, wenn sie die Geschichte ihres Urgroßvaters rekapituliert, der, bevor er sich im Ghetto von Bialystok an einem Aufstand gegen die Nazi-Besatzung beteiligte, für den örtlichen Judenrat tätig war. Und wie ihre Großmutter Gessen anflehte, in einer Veröffentlichung dazu ein Zitat von Hannah Arendt zu streichen. Oder wenn sie davon erzählt, wie sie Russland als Erwachsene ein zweites Mal verließ, weil sie fürchtete, die Behörden könnten ihr aufgrund ihrer Homosexualität das Sorgerecht für ihre Kinder streitig machen.

Masha Gessen über Migration und Sexualität

Gessen zeigt auf, wie wir beim wohlwollenden Sprechen über Migration dazu neigen, die Wahllosigkeit Geflüchteter hervorzuheben, ähnlich wie beim Sprechen über Homosexualität oder Transgender. Die Frage, ob die jeweilige Person eine Wahl hatte, scheint etwa die Unterscheidung zwischen „legitim“ Geflüchteten und sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ einzuleiten – sowie zwischen „legitimen“ Homo- und Transexuellen, also denen die „so geboren“ wurden, und allen anderen.

Der nachvollziehbare Versuch, der Migration oder der Sexualität einen Sinn zu verleihen, ihre Ursache und Kausalität verstehen zu wollen, führe nicht selten dazu, die vermeintlich falsche Migration oder Sexualität abzuwerten. Mit Blick auf ihre eigene, non-binäre Geschlechtsidentität verbindet die Autorin, die mehrfach betont, selbst immer die Wahl gehabt zu haben, diese Gedankenstränge so: „Die Entscheidung zu gehen fühlt sich selten frei an, aber die Entscheidung, neue Weltgegenden (oder veränderte Körper) zu bewohnen, erfordert Vorstellungskraft.“

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