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Martin Walser zum 95. Geburtstag – Walserdeutsch

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Von: Arno Widmann

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2008: Der Schriftsteller Martin Walser vor seinem Haus in Überlingen-Nußdorf am Bodenseeufer.
2008: Der Schriftsteller Martin Walser vor seinem Haus in Überlingen-Nußdorf am Bodenseeufer. © dpa

Ein Zwischenruf zu Martin Walsers 95. Geburtstag.

Die Nachrufe wurden alle schon zu seinem 90. geschrieben oder mehr oder weniger elegant vermieden. Außerdem würde schon die bloße Auflistung der Werke eines Autors, der wahrscheinlich ein paar zehntausend Seiten geschrieben hat – allein die Anselm-Kristlein-Trilogie hat mehr als 1500 – den hier vorgegebenen schmalen Raum von kaum mehr als 8000 Zeichen sprengen.

Also zum 95. nur ein Zwischenruf. Nichts über den Dramatiker, nichts über den Politiker, ebenso wenig über den Epiker. Nur ein paar Randbemerkungen über zwei, drei Techniken und Verfahren Walsers. Über Dinge also, die Leserinnen und Leser in Fans und Verächter spalten.

Genug der Vorreden. Fangen wir an. „Angstblüte“ ist ein 2006 erschienener Roman von knapp 480 Seiten. Der „Spiegel“ schrieb damals: „Es ist die direkte Fortschreibung des letzten Walsers, des Romans ,Der Augenblick der Liebe‘, der vor zwei Jahren erschien und durch seinen penetrant selbstmitleidigen Ton, schmierige Sexphantasien und seine Deutschland-Heulerei so gründlich misslungen war. Doch ,Angstblüte‘ ist anders. Ist selbstbewusster und schutzloser, radikaler und so schamlos und frei wie kein Walser zuvor.“ Darüber und über die Debatte, ob Sexfan-tasien alter Männer ekliger sind als die junger Frauen kein Wort mehr.

Auf der ersten Seite des Romans erhält der 70-jährige Karl einen Anruf von der Ehefrau seines Freundes und Tennispartners. Sie teilt ihm mit, Diego liege im Schwabinger Krankenhaus. Karl ist erschrocken. Er will sofort los. Aber ihm wird gesagt: „Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.“ Er notiert das pflichtschuldigst. Es ist noch vor neun. Er hat also Zeit, viel Zeit.

Er erzählt seiner Frau, was mit seinem Freund passiert ist. Das ist schnell abgemacht, aber mit ein paar von den Walserlesefreunden und -freundinnen sicher sehr goutierten Passagen. Da ist zum Beispiel: „Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren.“ Oder ein paar Zeilen später „Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.“

So sehen wir den Autor vor uns unter dem Dach seines Hauses am Bodensee. Wir haben völlig recht damit. Denn es stellt sich heraus, die vielen Stunden zwischen dem Anruf der Frau des Freundes und Karls Krankenhausbesuch bei ihm, sind Zeit, die nicht etwa Karl nutzt. Es ist Zeit, die der Autor verwendet, um das Milieu zu zeigen, in dem die Helden des Buches – weiße, alte Männer wie er – sich bewegen. Es ist in erster Linie aber Zeit, die der Autor – seinen Helden darin zum Verwechseln ähnlich – nutzt, um in immer neuen Drehungen die ihm eigene Kunstfertigkeit bei der Beschreibung des Milieus vorzuführen. Die Kunstfertigkeit besteht darin, eine Nähe, ja eine Vertrautheit vorzutäuschen, die der Autor natürlich nicht hat. Die er aber, da alles, was in diesem Buche steht, von ihm ist, gänzlich beherrscht.

Selbst dort, wo der Autor den Gedanken seiner erfundenen Figur folgt, statt den eigenen, macht er sich diese Gedanken zu eigen, indem er sie aufschreibt. Die enthusiastische Leserin, der enthusiastische Leser erkennt in Walser einen Autor, der erst, indem er sich in den von ihm geschaffenen Figuren und Situationen aufgibt, selber findet.

Der Begriff der „Entäußerung“ gewinnt, beobachtet man diesen Autor, seine volle Bedeutung: Äußerung und Entäußerung sind eines. Mit einem Male lässt er einen begreifen, warum der Autor Gott ist. Nicht nur, weil er eine Welt erschafft, sondern auch, weil er sich äußert durch sein Sein wie sein Nicht-Sein. Aber das führt jetzt zu dem Artikel, der zu Walsers 100. Geburtstag fällig sein wird.

Zurück zum 95., zurück zum Zwischenruf. Walser schreibt über den Kunsthändler, der mit Rembrandts, mit Fragonards, aber auch mit weniger Illustren sein Geld verdient. Bei ihm gibt es auch einen Schreibtisch aus dem Besitz des Fürsten Metternich, dem größten aller Meister der Restauration. Karl hat ein kleines Schloss, ein Bonsai-Neuschwanstein, wie er es selber nennt. In das lädt er zahlungskräftige und ausgabefreudige Kundschaft ein, um ihr die prächtigsten Stücke – behauptet er – seiner Neuerwerbungen zu zeigen. usw. usw.

Jede dieser Schilderungen ist eine Weggabelung, an der sich das enthusiastische vom verächtlichen Publikum trennen wird. Die ersteren lesen begeistert weiter, jede neue Abzweigung nehmen sie als kunstvolle Pirouette wahr. Sie sind sich ihres Autors so gewiss, dass sie es für selbstverständlich halten, dass Karl seinen Freund noch im Krankenhaus besuchen wird. Sie sind auch gespannt darauf, wie diese Begegnung sich abspielen wird.

Wer sich für Walser begeistert, liebt das Vorspiel, liebt Vor- und Zwischenspiele. Auch kleinste, scheinbar abwegigste Seitenbemerkungen sind dann keine überflüssigen Verzögerungen, sondern Aufputschmittel. Der Verdacht, sie könnten später – wie in einem Detektivroman – eine wichtige Rolle spielen, begleitet als basso continuo die Lektüre. Der Handlungsfaden kann ruhig einmal entspannt werden. Es geht eh nicht um ihn oder doch eher um ihn herum als um ihn. Also steigt die Aufmerksamkeit beim Lesen mit jedem Seitenstrang.

Hinzu kommt: Wer sich dafür begeistert, weiß sich in den Händen eines Autors, der seinen Faden niemals verliert. Auch über Hunderte von Seiten nicht und schon gar nicht über die 20 Seiten, die den Anruf von der Begegnung der beiden Freunde, mit der dann das zweite Kapitel einsetzt, trennen.

Enthusiasten und Enthusiastinnen lesen amüsiert, wie die dritte Ehefrau ihren frisch angetrauten Ehemann, der Lambert heißt, umbenennt in Diego – sie will ihn bei dem Namen rufen, den schon ihre Vorgängerinnen benutzten. Sie freuen sich an dem Namen einer von Karls Kundinnen. Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel. Die kauft inzwischen keine Kunst mehr, sondern – auch hierbei von Karl informiert – Pharma-Aktien. Namens-Witze sind seit der schwer zu überbietenden Leutheusser-Schnarrenberger aus der Mode gekommen. Zu deutlich prallte der Spott ab, zu offensichtlich war das Messer stumpf. Aber der Virtuose lässt nicht ab von seiner Kunst. Er zeigt sie, und er zeigt, was er sonst noch so alles drauf hat.

In diesem ersten Kapitel der „Angstblüte“ ist das die Technik des Scheinschlusses, also die hohe Kunst des Immer-noch-einen-drauf-setzen-Könnens. Es ist eine uns aus der Musik sehr vertraute Praxis. Man hat Richard Wagners „Tristan und Isolde“ ein vierstündiges Vorspiel genannt zu einem Akt, der niemals kommt. Der jugendliche, noch ungeübte Konzertbesucher klatscht bei einer Beethoven-Sinfonie das erste Mal schon eine Viertelstunde vor ihrem Schluss stürmisch los.

Walser verfährt ganz ähnlich, und viele seiner Figuren bewegen sich nicht nur wie Opernsängerinnen und -sänger vor fünfzig Jahren sich bewegten, also fast gar nicht. Sie singen auch. In „Angstblüte“ tun das Gundi und Diego, das Paar, das die dritte Ehefrau in Walsers Kopf sich geschaffen hat. Sie singen einander an, ein Opernduett gleich im ersten Kapitel eines Romans. Es ist die Ironie eines Erzählers und sein Enthusiasmus. Wer sich anstecken lässt, wird ein Walserenthusiast, die anderen husten ihm eins.

Walser weiß, was er tut. Er tut es gerne. So schreibt er: „Wenn Diego etwas erzählte, musste er auch immer alles, was dazugehörte, erzählen. Also erlebte man eine gewisse Umständlichkeit.“ Da spricht der Autor, grinsen die Lesenden mit Augurenlächeln einander zu, von sich selbst. Aber dann kommt der nächste Satz: „Die wollte er vor seinen Zuhörern nicht verbergen“, und jetzt müssen auch die lachen, die über die Karl-Kundin mit den drei Nachnamen nicht lachen konnten.

Es hat etwas Obszönes – das ist ein etwas zu starkes Wort –, wie an völlig unerwarteten Stellen durch all die Walsererfindungen hindurch immer wieder Walser selbst vorblitzt. Die einen verdrießt es, die anderen mögen das Komödiantisch-Selbstverliebte darin. Ja sie genießen es als Aufforderung zum eigenen Tanz.

Der Ruf an einen Autor, er soll sich nur in seinen Produkten zeigen, selbst aber möglichst unsichtbar bleiben, hat etwas Unhumanes. Nicht nur, dass man ihm gerade das Spiel verbieten möchte, an dem er so offensichtlich besonders viel Spaß hat. Nein, er soll sein wie Gott, der ja auch nur sichtbar ist in seinen Werken. Davon ist Walser dann doch Lichtjahre entfernt. Er zeigt sich. Wen das stört, muss ihn nicht lesen. Wir alle verzichten leider gar zu oft auf uns fremde Schönheiten.

Wikipedia schreibt: „Die Walser (rätoromanisch Gualsers) sind eine alemannische Volksgruppe im Alpenraum. Auf einer Länge von rund 300 km im Alpenbogen verteilen sich heute noch rund 150 Walsersiedlungen. Die Nachfahren sprechen vielerorts noch heute einen höchstalemannischen Dialekt, das Walserdeutsch.“

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