Mariam Kühsel-Hussaini „Tschudi“: Der Mann und die Maske

Mariam Kühsel-Hussaini entdeckt den Museumsdirektor Hugo von Tschudi als Romanfigur.
Nach dem Zuklappen des Buches bleibt ein Foto haften. Es zeigt den Schweizer Adeligen Hugo von Tschudi, der von 1896 bis 1909 die Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel leitete und in dieser Funktion entscheidend zur Durchsetzung der künstlerischen Moderne in Deutschland beigetragen hat. Tschudis Kopf ist leicht geneigt, locker gestützt von seiner rechten Hand. Er lächelt nicht, und doch strahlt sein Blick eine freundlich-selbstbewusste Überlegenheit aus. Der Maler Max Liebermann charakterisierte seinen Freund einmal, als beschriebe er dieses Foto: „Äußerlich das Bild vornehmer, ja kalter Ruhe, stürmten in ihm alle Leidenschaften und Begierden ... .“
Mariam Kühsel-Hussainis Idee, Tschudi, der bislang allenfalls als einflussreiche Randfigur seiner Epoche wahrgenommen worden ist, ins Zentrum ihres historischen Romans zu rücken, überzeugt bereits vor der Lektüre Neugier. Zwischen den herausragenden Künstlern seiner Zeit, Adolph Menzel und Liebermann, bot Hugo von Tschudi sich an, breite Pfade in die Farbenpracht des französischen Impressionismus zu verlegen, der von der deutschen Kunstwelt und insbesondere von Wilhelm II. mit Argwohn und Ressentiments betrachtet wurde.
Mariam Kühsel-Hussaini, 1987 in Kabul geboren und in Deutschland aufgewachsen, nähert sich der Zeit der Jahrhundertwende in assoziativen Sprüngen und eigenwilliger Diktion an. Oft sind es Alltagsdinge, die sie die Szenerie beleben lässt. Schnurrbärte beginnen zu sprechen, und Berlin riecht, wie sie es ausdrückt, manchmal so nach sich selbst. Doch obwohl das Zeitalter der industriellen Beschleunigung längst alle Lebensbereiche erfasst hat, treffen die Akteure eines gerade auch die Kunst dominierenden Bürgertums in aufreizender Langsamkeit und Behäbigkeit aufeinander.
Kühsel-Hussaini erzählt davon in kurzen Aufblendungen, in denen sie Zeitgenossen wie den Arzt Rudolf Virchow, den Schriftsteller Gerhart Hauptmann oder auch den Industriellensohn Walther Rathenau durch den Text paradieren lässt. Das wirkt manchmal ein wenig bemüht, und bisweilen wundert man sich über die Auswahl des Personals. Kaum nachvollziehbar etwa ist, dass die Cousins Bruno und Paul Cassirer keine Rolle spielen, obwohl gerade ihr Kunstsalon in der Viktoriastraße am Berliner Tiergarten beim Transfer der französischen Impressionisten auf den Berliner Kunstmarkt zentrale Bedeutung hatte. Eine Auslassung, die dem Roman etwas von seiner historischen Überzeugungskraft nimmt.
Das Buch:
Mariam Kühsel-Hussaini: Tschudi. Roman. Rowohlt, Hamburg 2020. 320 S., 24 Euro.
Tschudi wird als entschlossen-widerständiger Verfechter seiner künstlerischen Ideale geschildert, gegen einen tumb-konservativen Wilhelm II., der nicht in der Lage scheint, die Intrigen des Kunsthistorikers Wilhelm Bode und des Malers Anton von Wernern gegen Tschudi zu durchschauen.
Ganz so romanhaft einfach war der Berliner Kunststreit aber wohl doch nicht. Gerade die Ausstellungen im Salon Cassirer waren, indem sie Renoir, Degas, Manet und Monet mit Wernern und dem von Wilhelm II. geschätzten schweizerischen Italiener Giovanni Segantini kombinierten, kunstpädagogische Lehrstücke, die nicht einfach überrumpeln, sondern auch vermitteln wollten.
Einnehmend ist Kühsel-Hussainis Roman in der Annäherung an den hellen, aber zugleich auch unglücklichen Charakter des Hugo von Tschudi. Schwer gezeichnet von der Hautkrankheit Lupus vulgaris, die das Gesicht des auch schriftstellerisch begabten Museumsdirektors unter fortwährenden Schmerzen zunehmend entstellte, beschreibt sie ihn als edlen und leidenschaftlichen Kunstliebhaber, Ehemann und Vater. Die physischen Zersetzungsprozesse vermögen seinen inneren Überzeugungen nichts anzuhaben.
Seine eigentliche Energie bezieht der Roman denn auch aus der Schilderung sehr unterschiedlicher Erscheinungsformen der Verkrüppelung. Sie offenbaren in diesem Kontext, dass die in der künstlerischen Moderne bedeutend werdenden Aspekte der Fragmentierung des Individuums eine signifikante Entsprechung nicht zuletzt in der Erfahrung körperlicher Versehrtheit haben. Das bürgerliche Ich sieht sich in der industriellen Gründerzeit neuen Herausforderungen ausgesetzt, die auch die Kunst revolutionieren, und das nicht nur äußerlich. Kühsel-Hussainis Roman besticht bei aller sprachlichen Verspieltheit durch soziologische Klarheit.

Und so sind es hier insbesondere drei Protagonisten mit körperlichem Handicap, die um die bildnerische Darstellung des großen Ganzen ringen. Der kleinwüchsige Adolph Menzel setzte das Thema der Verkörperung in einem buchstäblichen Sinn ins Werk, während Wilhelm II. seine von Geburt an verkrüppelte Hand zeitlebens zu verbergen versuchte. Hugo von Tschudi wiederum, der sich eigens eine Gesichtsmaske von Rudolf Virchow hatte anfertigen lassen, war beseelt davon, die Kunst gegen die Kräfte von Verdrängung und Macht als Kunst wirken zu lassen.
Am Ende des Romans bringt Max Liebermann es auf die Leinwand. „Breit und lebendig stieß er die zauber-schimmernden Schmierklumpen gegen das Bild. Bis Vordergrund und Hintergrund nur noch farbige Antworten zueinander waren.“