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Maria Matios „Darina, die Süße“: Gewalt, die nicht abreißt

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Von: Christian Thomas

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Polnische Soldaten 1942 in der Bukowina.
Polnische Soldaten 1942 in der Bukowina. © Imago

Eine kleine Ukraine-Bibliothek (27): Maria Matios’ Roman „Darina, die Süße“

Eine Grenze, eine, wie man so sagt, natürliche Grenze, ein Grenzfluss. Es handelt sich um den Tscheremosch, im südlichen Grenzland der Ukraine, die häufig selbst so genannt wurde: Grenzland. Über die Grenze hinweg verstanden sich die Bewohner dennoch, über den Fluss verständigten sie sich in derselben Sprache. Oder sogar mehrsprachig, hüben wie drüben, an beiden Ufern der Bukowina. Doch im 20. Jahrhundert, im Jahrhundert der Extreme, wurde das Land auseinandergerissen, auch östlich und westlich vom Tscheremosch. Die Bukowina, bis Ende des Ersten Weltkriegs Kronland des Habsburger Reichs, wurde 1918 zum Streitfall, hin und her gerissen zwischen der Ukraine und Rumänien, von 1940/41 an durch die Sowjetunion und Nazideutschland. In einem Gedicht fragte der Schriftsteller Bohdan Lepkyj (1872-1941): „Kennst du das Land, wo das Blut in Strömen fließt“?

Ein Fluss, in dem das Blut fließt, ist der Tscheremosch in dem Roman „Darina, die Süße“ von Maria Matios. Stumm, wie das Dorf die Frau erlebt, hält die Gemeinschaft sie für dumm. Gemeine Reime lügen, und die Wirklichkeit trügt. In Wahrheit ist es so, dass Marina sich zu sprechen weigert, weil die grauenvollen Umstände des Todes der Mutter dem Kind die Sprache verschlagen haben. Allein auf dem Friedhof, am Grab ihres Vaters, teilt sich Darina mit. Wer da lauscht, ist sich sicher, den Leibhaftigen zu hören.

Bei Matios treffen wir nicht den Mythos vom herb-schönen Land der Huzulen an, wo Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, nicht weit entfernt ist und doch aus der Welt. Denn manche, obwohl mittlerweile Busse verkehren, kommen nicht mal weiter als bis zur Mühle am Dorfrand. Die Außenwelt ist eine andere Welt (nicht zu reden von dem berühmten Czernowitz-Kosmos mit Paul Celan oder Rose Ausländer, weiteren Kometen). Matios’ Roman ist nicht die Elegie auf die multikulturelle Bukowina, kein klagend-verklärender Abgesang auf ein Leben aus edler Einfalt und stiller Größe.

Einmal fällt der Nachname Matios – ein Hinweis darauf, dass die erzählte Geschichte eine auch nacherzählte Familiengeschichte ist? Maria Matios, 1959 geboren, wuchs im ukrainischen Teil der Bukowina auf. Für „Darina, die Süße“ erhielt die Autorin im Jahr 2007 den renommiertesten Literaturpreis der Ukraine, den Taras-Schewtschenko-Preis. Erwiesenermaßen schloss sie sich im Jahr 2010 der Partei Wladimir Klitschkos an und wurde 2013 ins Parlament der Ukraine gewählt. Auf Deutsch findet man einen zweiten Roman, „Mitternachtsblüte“ (2015), zuletzt gab es einen Hinweis auf ein 800 Seiten ausgreifendes Panorama auf Ukrainisch, ebenfalls über die Bukowina.

Auf deren jüngere Geschichte verweist im Nachwort zum Roman André Kurkow, auf die einer horrenden Gewaltgeschichte ausgelieferten Bevölkerung, die „zum Spielball von zwei Mächten wurde“, dem „stalinistisch-kommunistischen Russland“ und „Nazi-Deutschland“, beide darin einig, „gegen den Einzelnen Krieg“ zu führen, „gegen seine Duldsamkeit, gegen alles Süße, Weiche“. Von den dreißiger Jahren an wird die Lebensgeschichte zweier Generationen erzählt, im Mittelpunkt Darina, in ihrer Hilflosigkeit umsorgt von Iwan, einem Choleriker, der sie dennoch geradezu behütet. Der Wutmensch, die Zunge gehandicapt durch einen Geburtsfehler, stößt ordinärste Flüche aus. Bei nicht wenigen Frauen kommt Iwan an, weil er seiner Mundorgel Melodien zu entlocken weiß, die in erotische Stimmungen versetzen. Beide, Darina und Iwan, leben ihre Zweisamkeit, ähnlich wie Matronka und Mychajlo, die sich zum Essen vorbeugen, es Stirn an Stirn tun, tief verbunden – auch, um sich nicht in die Augen zu schauen.

Zwei Generationen, vier Einzelne – vier Wehrlose. Die Mutter wird Opfer einer Entführung durch den sowjetischen Geheimdienst, Opfer von Folter und Vergewaltigung, Opfer ihrer Verzweiflung, die sie in den Freitod treibt. Die Tochter, Opfer einer ebenfalls horrenden Aushorchung durch einen Sowjetoffizier, der das Mädchen mit einem Lutscher lockt, verliert beim Anblick der Toten, einem grauenvollen Anblick, ihre Stimme.

Zur Reihe:

Eine kleine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze, ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.

Maria Matios: Darina, die Süße. Roman. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Haymon Taschenbuch 2014. 200 S., 9,95 Euro.

Zuletzt ins Regal gestellt: Sofia Andruchowytschs „Die Geschichte von Romana“, Artem Tschechs „Nullpunkt“, Yevgenia Belorusets’ „Glückliche Fälle“ und „Anfang des Krieges“, die Nestorchronik, die Ausgabe „Widerstand“ der Zeitschrift „Osteuropa“, Erzählungen Mychailo Kozjubynskys und Wladimir Korolenkos sowie Bände zur deutschen Ostpolitik.

Als Nr. 28 wird Tanja Maljartschuks „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ vorgestellt.

Ein Sinnbild. Zumal wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Bukowina als das mehrsprachige Land schlechthin gilt. Bei Rose Ausländer (1901-1988) trifft man auf den Vers von den „vier Sprachen“ in der Bukowina – sodann aber auf die nächste Strophe: „Mein Vaterland ist tot/ sie haben es begraben/ im Feuer// Ich lebe/ in meinem Mutterland/ Wort“//.

Vom vielstimmig getönten Wort lebt nachdrücklich dieser Roman, von der Stimme einer abgeklärten Erzählerin, einer kommentierenden, einer ebenfalls konsternierten. Vielfältig die Tonlagen, denen wiederum Claudia Dathe als Übersetzerin eine Stimme gibt, vom abgeklärten Chronikton bis zum charakterlosen Klatsch. Vom rüden Realismus über einen euphorisch-essayistischen Exkurs zum Tanzen bis zum niederträchtigen Wort. Denn trotz eines eisernen Patriarchats, das sich austobt in Prügelorgien gegen die Frauen, leben diese Unterworfenen unterschwellig eine Art Matriarchat.

Es sind die Frauen, die in diesem Roman, in dem eine Verstummte im Mittelpunkt steht, das Wort führen, getrieben von Neid, vor allem von sexueller Eifersucht. Es ist eine Welt, in der eine verwitwete Nachbarin von Nebenbuhlerinnen in den Wald entführt wird, wo sie gefesselt aufgefunden wird, von Wölfen abgenagt bis auf die Knochen. Keine Rechtsprechung deswegen, der Glaube gilt archaischen Riten, und der Aberglaube wird verabreicht als ein Allheilmittel, das vergiftet ist. Mit einem jüngeren Wort: toxische Verhältnisse.

Wahrhaftig nie eine Idylle, wird diese Welt von 1940 an zur Hölle. Die Wehrmacht wird beschrieben als eine anonyme Masse, greifbar die tückische Jovialität der deutschen Besatzer. Korrekt gibt sich die SS – was man so korrekt nannte. Die „deutsche Einheit befahl den Leuten ohne große Umschweife, sich unverzüglich zur Evakuierung fertig zu machen, da sich die Front Tscheremoschne näherte.“ Das hyperkorrekte Wort „fertig machen“ verdeckt das Grauen der Holocaust-Maschinerie.

Es verschwinden Menschen, in der Kirche taucht deren Kleidung wieder auf, eine Bluse, die einer Abtransportieren gehörte. Mit der Rückeroberung durch die Sowjetarmee zieht weiterer Terror in Tscheremoschne ein. Mit dem Revolver vor Augen werden die Bewohner vor die Wahl gestellt: Deportation oder Abfinden mit der Knute der Kolchose. Mychajlo, der die Erträge verwaltet, wird eines Nachts mit Gewalt gezwungen, Lebensmittel herauszurücken. Rücksichtslos das Vorgehen einer Partisanentruppe, Anhänger der nationalistischen OUN, die ihre Opfer der Rache der „Sowjetmacht, die alles hört, sieht und weiß“, preisgibt. Die die von ihnen ermordeten Folteropfer an den Pranger stellt, entsetzlich entstellt: „Es war so still, dass man beinahe hören konnte, wie der Schnee fiel und wie Tränen über die Getöteten lief.“

Der Willkür ausgeliefert bis in die eigenen vier Wände hinein, ist das Dorf an Terror und Gegenterror noch in den 1950er Jahren verraten und verkauft. Im Rückblick, Jahrzehnte später, haben Klatsch und Tratsch das letzte Wort, weiterhin. „Ich muss Dir was erzählen“, so bereits hebt es an, schauderhaft. Oder auch dieses „Seht mal“ – und dann zerreißt sich über das, was an Gewalt geschah, die Gewissenlosigkeit das Maul.

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