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Marcus Steinweg „Sprachlöcher“: Annäherung durch unendliche Verfehlung

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Von: Eberhard Geisler

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Die Fledermaus weiß, was zu tun ist.
Die Fledermaus weiß, was zu tun ist. © AFP

„Sprachlöcher“: Marcus Steinweg lotet Untiefen des Denkens und Schreibens philosophisch aus.

Marcus Steinweg hat der Vielzahl philosophischer Notizen, die er in seinem neuen Buch versammelt hat, ein Motto von Franz Kafka vorangestellt: „Könnte ich mich wie die Fledermaus durch Graben von Löchern retten, würde ich Löcher graben.“ Kafka, in seiner unnachahmlichen Art, uns mit radikaler, entmutigender Versperrtheit metaphysischen Denkens zu konfrontieren, hat das 20. Jahrhundert als eines eingeläutet, in dem vermehrt nach Sprache, nach der sie konstituierenden Sinnverweigerung und nach Möglichkeiten, Spuren von Sinn in ihr gleichsam freizukratzen, gefragt werden sollte. Samuel Beckett wird später den Ball aufnehmen und in einem Aufsatz im Blick auf die Sprache feststellen: „Ein Loch nach dem andern in ihr zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt – ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen.“

Marcus Steinweg, Professor für Kunst und Theorie an der Kunstakademie Karlsruhe und Verfasser mehrerer Bücher, die Fragen zeitgenössischer Ästhetik gelten, entfaltet einen breiten Fächer von Bezugsgrößen, die zu einer solchen Reflexion der Sprache beigetragen haben bzw. an deren Texten er seine eigene Reflexion von Sprache und Schreiben erweisen kann: Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy ebenso wie André Gide, Maurice Blanchot, Roland Barthes, Marguerite Duras, Friederike Mayröcker und Alexander Kluge.

Eine Passage ist überschrieben: „Nicht fertig mit Derrida“. Nein, Steinweg möchte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und meinen, Derridas Philosophie sei erledigt wie eine Modeerscheinung, sondern geduldig die Auseinandersetzung mit ihr und Beerbbares in ihr suchen.

Das Buch:

Marcus Steinweg: Sprachlöcher. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 349 Seiten, 20 Euro.

Das durchgestrichene Sein

Die Fülle schöner Passagen kann hier nur angedeutet werden, etwa wenn es unter dem Titel „Durchkreuzt“ heißt: „Das Nichts durchkreuzt das Sein nicht, um es mundtot zu machen. Heidegger verleiht ihm die Sprache des Entzugs, Beckett die der Leere oder Litanei.“ Heidegger hatte bekanntlich vorgeschlagen, das Wort „Sein“ durchgestrichen zu schreiben, um es vom Anspruch zu lösen, eine Totalität zu bezeichnen. Aber die Vorstellung, das Sein sei durch die Philosophiegeschichte gleichwohl nicht mundtot gemacht worden und noch immer, auf seine Art und Weise, beredt, war zugleich in seinem Sinn gewesen, und er hatte neben dem Denken auf die erschließende Kraft der Dichtung gesetzt.

Es lassen sich hier viele Trouvaillen machen, darunter die Würdigung des Werks von Heiner Müller, den Steinweg in der Nachfolge Hölderlins begreift und dessen Idee, die Sprache in seinen Texten gleichsam verrücktspielen zu lassen, um neue Bedeutungen zu generieren und so durch unendliche Verfehlung von Sinn dennoch unendliche Annäherung an Sinn zu erreichen.

Steinweg schreibt: „Wenn sich ein Loch im Sinn, in der Bedeutung, in der Sprache auftut, dann, um die Begrenztheit von Sinn, Bedeutung und Sprache zu demonstrieren, oder Sinn, Bedeutung und Sprache als Eingrenzungen, denen etwas entschlüpft.“

Mit seinem neuen Buch, das fordert, aber mit tiefen Einblicken in die neuere Situation europäischen Denkens und Schreibens belohnt, dürfte er dann auch den Weg freigemacht haben, um dem Hinweis auf Kafka weiter zu folgen. Walter Benjamin hatte in seinem Essay über Kafka dem Schriftsteller Denkmotive abgespürt, die ihm selbst vertraut und wichtig gewesen waren. Er beendet seinen Aufsatz mit dem Hinweis auf zwei Texte, in denen Kafka Szenarien entwirft, in denen der Bauer Sancho Panza sich von seinem aristokratischen Herrn Quijote emanzipiert, und Dr. Bucephalus, der das Streitross Alexanders des Großen gewesen ist, den Eroberer jedoch vom Sattel wirft und sich – „bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht“ – nunmehr dem Studium alter Gesetzesbücher widmet, in der Gewissheit, dort fündig zu werden. Benjamin schließt: „Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.“

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