Ein Mann flieht aus seinem Leben

Peter Stamms Aussteiger-Roman „Weit über das Land“ probiert kühl Möglichkeiten durch bei einem, der seine Familie zurücklässt.
Von Cornelia Geissler
Peter Stamm macht einem das Lesen leicht. Seine Figuren kann man sich gut vorstellen. Sie leben irgendwo in unserer Nähe, sie machen ziemlich normale Dinge. Oder eben Dinge, die nur ein wenig anders sind als die, die man normalerweise machen würde. Ihre Handlungen sind, wie man so sagt, nachvollziehbar.
In „Weit über das Land“ verlässt zwar ein Mann seine Familie, aber er tut es so beiläufig, als würde er mal eben Zigaretten holen gehen. Thomas, ein Buchhalter und Steuerberater in einer Firma, die Dienstleistungen für private Kunden anbietet, ist mit seiner Frau Astrid, der Tochter und dem Sohn gerade aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt. Die Kinder sind schon im Bett, die Eltern sitzen mit einem Glas Rotwein und der Zeitung draußen. Dann folgt Astrid dem quengelnden Ruf eines der Kinder, geht ins Haus, bleibt drinnen, ordnet noch etwas, ist erschöpft, geht schon schlafen, ohne Gute Nacht zu sagen. Irgendwann währenddessen verschwindet Thomas – offenbar ohne Vorsatz, offenbar, nachdem er die flachen Hecken zwischen den Grundstücken als Mauern angesehen hat, als würden sie ein Gefängnis umschließen.
Er geht ohne Gepäck, aber dann sehr entschlossen. Er steigt von einem Moment auf den anderen komplett aus seinem Alltag aus. Im Verlauf seiner ungewöhnlichen Flucht ist er ein später Wiedergänger von Max Frischs Gantenbein, denn er probiert Lebensmodelle aus, ganz kurz nur, nicht auserzählt.
Peter Stamm, Schweizer wie Frisch, geboren 1963, übrigens als Sohn eines Buchhalters, schildert eine Ungeheuerlichkeit so, als könnte sie alle Tage passieren. Und er lässt den Leser im Unklaren über die Gründe dafür. Stamm, der eine Weile Psychologie studiert hat, behält die Motive seiner Helden für sich. Er schildert nur die Oberfläche, das Sichtbare; was seine Figuren in Herz und Hirn bewegen, müssen die Leser bei sich selbst finden.
Allerdings gibt es in dem Roman ein paar kleine Punkte zum Festhalten. Der Mann hat zwar seine Flucht nicht vorausgeplant, sonst hätte er wenigstens seine Kleiderwahl bedacht, aber er geht dann durchaus planvoll vor: Er verbirgt sich vor Fußgängern und Autofahrern im näheren Umkreis, damit später niemand sagen kann, er hätte ihn gesehen. Anfangs fällt Thomas ein, dass es ihn oft irritierte, wenn Astrid auf die Frage, woran sie gerade denke, nie antwortete. Später erinnert sie sich daran, dass Thomas viel früher in sie verliebt war als sie in ihn, dass sie erst bei einem zufälligen Wiedersehen auf ihn aufmerksam wurde.
Thomas Lebensanker liegt gar nicht so fest in dem ordentlich umgrenzten Garten, wie man es bei dem Modell Kleinfamilie mit Haus und Auto annehmen sollte.
„Ein erwachsener Mann hat das Recht unterzutauchen“, sagt der Polizist: Wie fragil ist also eine Beziehung, Ehe, Familie? Stamm kratzt am Lack der Bürgerlichkeit. Als Astrid ein Bild für die Fahndung raussuchen soll, finden sich auf den Ferienfotos eigentlich immer nur die Kinder. Seit sie Eltern sind, funktionieren Astrid und Thomas als Zweckbündnis, nicht mehr als Liebespaar.
Thomas geht ohne Arg, denkt freundlich an die Zu-Hause-Gebliebenen, hat in der Einsamkeit einmal ein vages Gefühl der Verbundenheit mit ihnen – so viel Innensicht gesteht Peter Stamm dem Leser dann doch zu. Und Astrid findet sich erstaunlich schnell mit dem Verschwinden ihres Mannes ab. Sie vermisst ihn, aber trauert nicht, sie vermisst ihn, aber hasst nicht. Damit bleibt sie einem seltsam fern.
Die Wege von Thomas führen schnell ins Gebirge, in die Alpen. Das Wandern, der Kampf des Mannes in der Natur ist ein typisches Sujet der Schweizer Literatur. „Während er höher stieg, war es ihm, als gehe er rückwärts in der Zeit“, schreibt Stamm. „Er war gefangen in einem Labyrinth aus Fels, aber die diffuse Angst, die er verspürte, hatte weniger damit zu tun, als mit dem Gedanken, dass er an seinem Ziel angekommen war, dass er, selbst wenn er einen Weg fände, nicht weiterwusste.“
So realistisch Peter Stamms Erzählen hier wirkt, so sehr ist dieses realistische Schreiben nur ein Gaukelspiel. Der Roman bietet verschiedene Möglichkeiten an und suggeriert dem Leser, es hätte so, aber auch so sein können. Das erinnert an den Vorgänger-Roman „Nacht ist der Tag“, in dem eine Frau nach einem Unfall durch Chirurgen ein neues Gesicht bekommt und den früheren Liebhaber neu erobern will – ohne dass er wissen soll, wer sie ist. Das schreibt er mit geradezu magischer Eindringlichkeit.
Im neuen Buch sind mehrmals Situationen erst aus dem Blickwinkel der einen und, zeitversetzt, aus dem der anderen Figur zu lesen. So geschieht der Moment des Verschwindens doppelt und Thomas’ Einkauf in einem Sportgeschäft, sein Stopp in einer Bergsteigerhütte. Diese Verschiebungen machen einen großen Reiz dieses Buches aus, das den Leser sonst so kühl auf Abstand hält. Weil es keine 1:1-Wiederholungen sind, liest man begierig, wie die andere Figur das von der einen Erlebte noch einmal durchläuft. Das macht Stamm auch mit einem Augenzwinkern an den Leser: Astrid überlegt, ob die Verkäuferin im Sportgeschäft eine Komplizin von Thomas sein könnte. Thomas überlegt, sie dazu zu machen.
Astrid steht vor mehreren Herausforderungen. Erst sucht sie vor den Nachbarn und Thomas’ Kollegen den Schein zu wahren, dann muss sie mit der Leerstelle in der Familie umgehen. Ihre Strategie ist, und auch hier erfahren wir nicht warum, möglichst nichts zu ändern, sie geht nicht einmal wieder arbeiten. Die einfühlsamen Überlegungen des Polizisten lehnt sie ab: „Spiel nicht den Psychologen“. Dass Thomas sich als Mann und Vater aus der Verantwortung gestohlen hat, blitzt als Gedanke nur kurz auf: Als die Tochter fast erwachsen ist, fasst sie ihn in dem Wort „Arschloch“.
Der Weg wird den Wanderer weiterführen, aber vielleicht ist das nur die Idee von Astrid, wenn er wie ein Flüchtling quer durch Europa zieht, mit gefälschten Papieren. Zeitweise wird Thomas sesshaft, aber er bricht immer wieder aus.