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Was machen Groß und Stark mit Klein?

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Stark und Groß und Klein in dem Kinderbuch Stina Wirséns.
Stark und Groß und Klein in dem Kinderbuch Stina Wirséns. © Stina Wirsén

Ein Bilderbuch erzählt mit putzigen Wesen vom Angsthaben und rüttelt auch Erwachsene auf

Von Cornelia Geissler

Die Hauptperson hat ungefähr die Figur eines Meerschweinchens, sie steht aufrecht. „Klein“ heißt das Buch. „Sieh mal!“, beginnt der knappe Text, „Eins ist klein und heißt Klein. Und zwei sind groß und heißen Groß und Stark.“ Stina Wirsén hat Kleins Körper mit ein paar Bleistiftkringeln ausgefüllt, Groß mit einem Buntstift in Ocker, Stark ist blau schraffiert.

Die drei Figuren stehen für eine Familie, für den Kern der zivilisierten Gesellschaft. Mutter, Vater, Kind. Vielleicht auch Mutter, Mutter, Kind, das ist egal. Es sieht heimelig aus, wie die drei am Tisch sitzen oder im Wohnzimmer unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. „Klein mag es, wenn alle froh sind“, und, „wenn zu Hause alles schön ist und kein Streit“, heißt es. Die Botschaft versteht jedes Kind. Der Verlag empfiehlt das Buch ab drei Jahren und – „für alle“.

Stina Wirséns Buch mit seinen putzigen Figuren handelt eigentlich davon, wie Kinder Erwachsenen ausgeliefert sind. Dafür wählt die schwedische Illustratorin und Autorin minimalistische Mittel. Die Erwachsenen – es tauchen noch die Kita-Erzieherin Frau Traulich und Jemand aus der Nachbarwohnung auf – sind nur durch den deutlichen Größenunterschied in ihrer Rolle festgelegt; Geschlecht, Hautfarbe, Statur erscheinen völlig gleichgültig. Die Kinder sieht man als bunt gemixte Gruppe aus Knubbelwesen.

Die Geschichte geht so: Bei Klein zu Hause gibt es heftigen Streit, weshalb Groß verschwindet und Klein verstört mit Stark zurückbleibt. Dem fällt der Ärger in Brocken aus dem Gesicht. Stark ist so mit sich beschäftigt, dass Klein weder trösten darf, noch selbst getröstet wird. Zum Glück steht die Nachbarstür offen. „Jemand fragt, ob Klein traurig ist. Klein sagt nein, dabei ist Klein doch traurig. Im ganzen Bauch traurig und im Kopf und in den Armen auch.“ Klein ist nur noch ein graues Häuflein. Aus den kurzen Sätzen und der extrem reduzierten Zeichnung spricht die ganze Verzweiflung dieses Wesens.

Am nächsten Tag erzählt Klein aber im Kindergarten der Frau Traulich, was los ist. Die nimmt Klein in den Arm, später telefoniert sie lange. Der Schlüssel zur Lösung von Kleins Problem liegt darin, über die Sorgen zu sprechen. Das klingt sehr einfach, bietet jedoch für ein Kind die einzige Möglichkeit, der Ohnmacht zu entfliehen. Die Autorin denkt die erwachsenen Leser mit, denkt an Eltern, Erzieher, Onkel, Tanten, Nachbarn, an alle, denen eine Situation zwischen Klein und Groß seltsam vorkommen könnte. Wirsén schließt mit einem Versprechen für die einen und einer Aufforderung für die anderen: „Denn alle, die groß sind, sollen sich um die kümmern, die klein sind. So ist das.“

Dieses schmale Buch ist so bildkräftig und aussagestark wie Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“. Es hat eine Wucht, die Erwachsene beim ersten Betrachten erschüttert. Dann regt sich der Impuls: Das müssen alle lesen.

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