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Lyriktage Frankfurt: Die Ach-Kraft des Oimoi, und wie es dann weitergeht

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Von: Judith von Sternburg

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Nico Bleutge, hier in Berlin.
Nico Bleutge, hier in Berlin. © imago images/Rolf Zöllner

Die Lyriktage Frankfurt eröffnen mit einer Rede von Nico Bleutge und einem Gespräch über Leid und Freud der Branche.

Am Anfang die Klage in mehreren Schichten und Intensitäten: als Thema der ersten „Frankfurter Rede zur Gegenwartslyrik“, die Nico Bleutge hielt, dann als geheime oder auch weniger geheime Grundierung der ersten Diskussionsrunde. Klagen, immer gibt es gute Gründe dafür, immer würde man lieber etwas anderes tun, und vielleicht war es gerade recht, dass die Lyriktage Frankfurt (vormals Frankfurter Lyriktage!) das gleich zu Beginn in der Evangelischen Akademie einmal abhandelten. Man klagt, um mit dem Klagen aufhören zu können, auch wenn es vorerst ein unendliches Weh zu sein scheint. Und nicht nur Oje, sondern erst recht Otototoi und Oimoi zu langen Ketten verbunden werden können. Es kann um Schlimmstes gehen, den Tod, es kann um Schlimmes gehen, den Verfall der professionellen Kritik. Beides verband sich nachher wiederum fast ritualhaft durch die häufige Nennung des Ende 2022 verstorbenen Literaturkritikers Michael Braun.

Jahreszeit des Kummers

Bei Bleutge ging es um die Tradition der Totenklage, das Formalisierte einerseits – hierzulande vorschnell als Floskel verpönt –, andererseits das, was jeden persönlich betrifft. Kein Leben, ohne von einer wachsenden Zahl Toter umgeben zu sein. Bei Bleutge war es der Tod des Vaters, der ihn in der „Jahreszeit des Kummers“ zum Nachdenken über die Sprachlosigkeit und Vorsprachlichkeit der Trauer bewegte. Er kam von der „Ilias“, der Trauer um Hektor, bis heran an diese Tage: Dagmara Kraus etwa und ihr „wehbuch“, in dem die „achkraft“ der Klage fantastisch gefeiert wird, aber auch die Ukrainerin Lyuba Yakimchuk und ihren Band „Aprikosen des Donbass“. Bleutge führte vor, wie Sprache in einem Trauergedicht gefetzt werden kann wie eine Seele, beides buchstäblich zu verstehen.

Yakimchuks Band ist noch nicht ins Deutsche übersetzt, im von Beate Tröger moderierten Gespräch zeigte sich aber, dass das Haus für Poesie in Berlin derzeit für eine Übersetzung sorgt – wie dessen Leiterin Katharina Schultens mit Blick auf das nahende Poetikfestival Berlin berichtete.

Denn in der Runde lagen Klage und Munterkeit nun dicht beieinander. Man schaute zudem einer kompakten Szene zu, die den Eindruck vermittelte, beim Frankfurter Festivalkongress zur Gegenwartslyrik 2019, „Fokus Lyrik“, praktisch auf demselben Stand der Forderungen und Nöte gewesen zu sein. Der Kritiker Gregor Dotzauer (Berliner „Tagesspiegel“) erklärte, die Lyrikproduktion sei überbordend, die kompetente Kritik hingegen rückläufig. Schultens sah den Kontrast zwischen Hören und Lesen, rappelvollen Lyriklesungen und niedrigen Auflagen für Gedichtbände. Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel betonte die „Erosion der literarischen Öffentlichkeit“. Autor Tristan Marquardt wünschte sich eine spezifische Lyrikförderung, Schultens einen Sprachkunstwettbewerb analog zu „Jugend musiziert“.

Gregor Praml machte zwischendurch Musik am Bass, einem spektakulären Resonanzraum. Wie immer zeigte sich, dass das Wort auch nicht mehr als ein Ton ist, unter dem sich Menschen besonders viel vorstellen können.

Lyriktage Frankfurt: bis 26. Mai. www.lyriktage-frankfurt.de

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