Luther als großer Hasser

Der Streit um Martin Luther wird bis heute geführt, um sich seine Vorurteile zu bestätigen. Das zeigt die soeben erschienene Luther-Biografie von Willi Winkler.
Von Dirk Pilz
Die schrillen Stimmen werden zumeist gehört. Die polternden, polemischen Stimmen. Das kann man von Martin Luther lernen – und von seinen Biographen. Bereits die erste große Luther-Biographie ist ein lautes Buch, Johannes Mathesius’ „Historien von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes Doctoris Martini Luthers“, erschienen 1566. Da war Luther gerade zwanzig Jahre tot. Zum protestantischen Heiligen, zum Erlöser und Stifter der deutschen Nation wurde Luther allerdings erst im 19. Jahrhundert. Leopold von Ranke nennt ihn in seiner enorm einflussreichen „Deutschen Geschichte“ (1839-1847) einen „kühnen, großartigen und festen Geist“, der wider die verkommene Papst-Kirche stritt, „ein Unternehmen wie ein Schlag, der Deutschland aufweckte“.
Das Ergebnis solcher Luther-Verherrlichung sieht man noch heute an vielen Denkmälern deutscher Luther-Städte: der Reformator als deutscher Held der Freiheit, des Fortschritts. Und es ist an den Luther-Bildern abzulesen, die tief ins kulturelle Gedächtnis eingesunken sind. Die allgemeine Wahrnehmung glaubt hier den tapferen Luther, dort das Zwangssystem einer spätmittelalterlichen Kirche, hier den Befreier, dort Korruption. Luther, der Befreier, der Rebell: so will es das Klischee. Noch das Logo für das 500. Reformationsjubiläum im kommenden Jahr zeigt in seiner Mitte – Luther. Als ob er allein aus dem Nichts die Reformation erfunden hätte. Als ob sich die Reformation und die Papst-Kirche in bloßen „feindseligen“ Gegensätzen (Ranke) gegenüber gestanden hätten.
Aber genau dieses Denken in Feindseligkeiten hat Schule gemacht, an dem sich das Luther-Gedenken wie das Luther-Erforschen bis heute abarbeitet. Ein gutes Beispiel dafür ist die soeben erschienene Luther-Biographie des Journalisten Willi Winkler: ein Buch einzig geschrieben, um den Reformator vom Sockel zu holen, um aus dem Schatten der „wilhelminischen Luther-Aufrüstung“ zu treten.
Winkler gibt sich dabei viel Mühe, Luthers zeitweiligem derben Stil hinterherzuschreiben. Wenn von Luthers Argumenten gegen Aristoteles die Rede ist, wird bei Winkler der „Referenzphilosoph der Scholastik in die Grütze“ gehauen, in den frühreformatorischen Programmschriften erkennt er nur einen Mann „in Rage“, getrieben von „demonstrativer Wut“. Luther? Ein „großer Hasser“, ein „großer Zerstörer“.
Winkler bedient damit die lange Tradition der Luther-Beschimpfungen – und hantiert wie diese mit simplen Dualismen – durchweg lässt er den „leidenschaftlichen Mystiker“ und Frömmler Luther auf eine „berechnende und berechnete kalte Welt“ treffen. Er arbeitet sich so jedoch an einem Luther-Bild ab, das sowohl in der Forschung als auch in den Verlautbarungen der Evangelischen Kirche längst nicht mehr gilt.
Es ist ohnehin ein Irrtum, zu glauben, die neuesten Publikationen seien auch die aktuellsten. Es empfiehlt sich noch immer die 1981 erschienene – jetzt dankenswerterweise als Taschenbuch verfügbare – Biographie von Heiko A. Oberman zu lesen, um Luthers enge Bindung an die spätmittelalterliche Frömmigkeit zu begreifen.
Kulinarisches Herauspicken
Eben diesen Wirkungszusammenhang macht auch das Buch „Ablass und Reformation“ des Kirchenhistorikers Berndt Hamm deutlich, vielleicht die wichtigste neue Publikation zur Reformation. Der Streit um den Ablass gilt gewöhnlich ja als bestes Beispiel für die Unversöhnlichkeit zwischen reformatorischer und römischer Theologie. Hamm dagegen zeigt eingehend, wie Luther ältere Traditionen aufnimmt und zuspitzt.
Hier hat man einen Luther, der sich vor keinen Reformationskarren spannen lässt, weder so noch so. Willi Winkler macht dagegen den polemischen Vorschlag, die römisch-katholische Kirche möge „den Dr. Martinus heiligsprechen“, er habe ganz in ihrem Sinne „den Fortschritt aufgehalten, die Aufklärung verhindert“. Auch das ist Instrumentalisierung: Luther dient zur Selbstvergewisserung, indem man gegen ihn anschreibt – man kann sich dabei so schön modern, fortschrittlich und aufgeklärt fühlen.
Wer die Widersprüchlichkeiten von Luthers Persönlichkeit und seiner Theologie erfassen will, lese besser das Luther-Kapitel in Thomas Kaufmanns eben erschienener Reformationsgeschichte „Erlöste und Verdammte“, eine aktualisierte Fassung seines Buches von 2009. Kaufmann weist übrigens darauf hin, dass der Umgang mit der Reformation zumeist „kulinarischer“ Natur war: Man pickt sich heraus, was ins vorgefertigte Weltbild passt.