Lukas Bärfuss: „Vaters Kiste“ – Was vom Menschen übrigbleibt

Lukas Bärfuss und sein schmaler, aber vielseitiger Essay „Vaters Kiste“ über die Familie, Erbrecht und Freiheit.
Wer frei schreibt, weiß erst recht, dass wir Gefangene der Sprache sind, jenes so vertrauten Mediums, mit dem wir uns immer noch am besten die Welt erklären können. Dabei: „Es gibt die Wirklichkeit“, schreibt Lukas Bärfuss, „und es gibt die Sprache, und wie das eine vom anderen unterschieden ist, das bleibt ganz grässlich ungewiss.“ Eine Beobachtung mit vielen Facetten, von der Geschichtsschreibung, in der sich womöglich nicht die Beschreibung der Wirklichkeit findet, „sondern deren Erfindung und das Interesse hinter dieser Erfindung“, bis zum gängigen Begriff von „Familie“ „So etwas wie eine Familie gibt es in der Wirklichkeit nicht, und wer immer sie zu konstruieren versucht, verfolgt damit ein Interesse.“
Hier klingt das verkürzt, Bärfuss leitet es her – unter anderem aus den Sprachen von Gesellschaften, in denen Verwandtschaftsverhältnisse nicht im Vater-Mutter-Kind-Schema begriffen werden –, aber er argumentiert auch zügig voran. Das macht wiederum seine Sprache so direkt und dadurch angreifbar. Bärfuss’ Misstrauen der Sprache gegenüber, könnte man sich vorstellen, bewegt ihn zu dieser Klarheit und zugleich zu einer Freude an der Nebenbeobachtung (Abschweifung klingt schon zu ausführlich).
Das Buch
Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 S., 18 Euro.
Eine zerknickte Biografie
„Vaters Kiste“ dreht sich um Herkunft, um die Beliebigkeit von gesellschaftlichen Festlegungen, die Freiheit, sich ihnen zu entziehen. Der Ausgangspunkt ist der letzte Karton mit Dingen seines toten Vaters, die er noch aufgehoben hatte. Wenig bleibt vom Menschen übrig, anders betrachtet ist der Müll, den er hinterlässt, eine markerschütternde Menge. Bärfuss hierzu: „... interessanterweise kennt unsere Marktwirtschaft den Begriff des Privateigentums, sie hat aber keinen Begriff für den Privatmüll.“ Der Fall von Bärfuss’ Vaters ist gleichwohl ungewöhnlich, wenn auch nur im Zusammenhang mit einem berühmten Schweizer Schriftsteller. Bärfuss erzählt von einer zerknickten Biografie mit Gefängnisaufenthalten, Schulden, Obdachlosigkeit, einem einsamen Ende. Vater und Sohn – der Sohn selbst mit prekären Verhältnissen vertraut, wie seine Leser und Leserinnen wissen – hatten lange keinen Kontakt mehr. „Ich musste mich um mein Leben kümmern, um meine Probleme.“ Nach dem Tod des Vaters ist es trotzdem an ihm, alles zu regeln. „Das Erbe schlug ich natürlich aus, ich war ja nicht verrückt.“
An ein bitteres Familienleben – „Unsere Familienfeste waren Kriegsgebiete“ – schließen sich nun die Überlegungen an, was das für ein Gebilde und für eine Zumutung ist. Bärfuss beklagt sich nicht. Er liest Darwin, liest Lévi-Strauss, registriert ihre Beobachtungsgabe und wie diese vom Blickwinkel der Zeit und ihrer Sprache bestimmt ist. „Wir brauchen eine andere Grammatik“, schreibt Bärfuss, „und andere Begriffe für Familie, für Herkunft, aber vor allem brauchen wir ein anderes Erbrecht.“
„Vaters Kiste“, ein Text, der von Neugier und seinerseits Beobachtungsgabe geprägt ist, versucht zuletzt, Vorschläge zu machen. Ökonomische Prozesse, so Bärfuss, seien nicht alternativlos. Selbst wenn sich sofort Menschen finden, die das naiv finden, so könnte man sie sofort wieder an die Offenheit und Nachdenklichkeit von „Vaters Kiste“ verweisen.