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Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“ – Du und ich tun solche Dinge nicht

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Von: Arno Widmann

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Louise Glück. Foto: Katherine Wolkoff
Louise Glück. © Katherine Wolkoff

„Winterrezepte aus dem Kollektiv“, ein neuer Gedichtband der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück.

Das Englisch ist so einfach! Ich verstehe alles. Nein. Ganz falsch. Ich kenne jedes Wort. Kein einziges muss ich nachschlagen. Aber verstehe ich es? Ja, doch. Jedes Wort verstehe ich, aber dennoch bleibt mir „alles“ ein Rätsel. Seit Kindertagen nehmen wir die Dinge auseinander, um sie zu verstehen. Hier liegt alles offen zutage. Kein einziges unbekanntes Wort. Dennoch alles ein Geheimnis. Die verführerische Dunkelheit ihrer Gedichte zaubert Louise Glück aus nichts als Transparenz.

Das erste dieser neuesten Sammlung der US-amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin von 2020 heißt – einfacher geht nicht – „Poem“ (Gedicht). Es beginnt, als zitiere sie eine Jugendstilillustration zu „Brüderchen und Schwesterchen“: „Day and night come / hand in hand like a boy and a girl“ (Tag und Nacht kommen / Hand in Hand wie ein Junge und ein Mädchen). Aber was passiert dann? Mit einem Male glaube ich, die beiden durchs Leben stürzen zu sehen, einem Tod entgegen, der irgendwo außerhalb des Gedichtes eintreten wird, oder tat er es irgendwo im Gedicht – von mir unbemerkt? Sehen die beiden hinunterstürzend sich selbst, oder sind der Junge und das Mädchen nicht das „Wir“, von dem die Autorin spricht? Ganz sicher nicht. Im Gedicht heißt es ganz klar: „Sie ersteigen den hohen eisbedeckten Berg, / fliegen dann fort. Doch du und ich / tun solche Dinge nicht -“.

Aufgehoben im Vers

Das Buch

Louise Glück: Winterrezepte aus dem Kollektiv. A. d. Engl. v. Uta Gosmann. Luchterhand 2021. 77 Seiten, 16 Euro.

Dennoch: Ich kann die einen zwei von den anderen zwei nicht trennen. Sie scheinen erst Traum-, dann Spiegelbilder. Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich weiß allerdings, dass, was in meiner unbeholfenen Zusammenfassung so unsicher, ja verunsichernd, klingt, es im Gedicht nicht ist. Im Gegenteil. Das „Wir“ des Gedichts mag stürzen, wir Leserinnen und Leser aber – so kommt es mir vor – fühlen uns aufgehoben in der Bewegung dieser Verse.

Es mag daran liegen, dass jedes Wort mir vertraut ist, aber sicher auch daran, dass ich den Verdacht nicht loswerde, das „Gedicht“ sei kunstvoll zusammengesetzt aus alten Gedichten, die ich nicht kenne. Bestärkt werde ich in diesem Verdacht durch den Umschlag. Er zeigt, so werden wir in einer kleinen Notiz am Ende des Buches aufgeklärt, Verse von Zhu Da (1626–1705). Sie finden sich auf seinem Gemälde „Landschaft mit Vögeln und Blumen“. Er stammte aus der Familie der gestürzten Ming-Dynastie, wurde Mönch und ein Künstler mit sehr individuellem Stil. Einer, der ganz für sich steht in der chinesischen Tradition. Also ganz und gar nicht wie Louise Glück.

Wer in dem schmalen Band weiterliest, der stößt auf ein Reisetagebuch, in dem ein „schneebedeckter Berg“ auftaucht. Die sich wiederholenden, immer ein wenig variierten Motive schaffen einen Klang, eine Melodie, die den Leser weiterträgt, ihn aufklärt und einlullt zugleich. Wie Musik.

Es sind 14 Gedichte, und „Lied“ heißt das letzte. Es endet so: „That is the kiln, I think; / only Leo makes porcelain in the desert / Ah, he says, you are dreaming again / And I say then I’m glad I dream / the fire is still alive.“ (Das ist der Ofen, denke ich; / nur Leo macht Porzellan in der Wüste / Ah, sagt er, jetzt träumst du wieder / Und ich sag, dann bin ich froh zu träumen / das Feuer brennt weiter.) In der dritten und vierten Zeile des ersten Gedichts war schon die Rede von einer Schale gewesen, „bemalt mit Bildern von Vögeln“. Wir bewegen uns in einem Rondo, das sich und uns in Rondos bewegt.

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