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Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe: Schreiben mit schmerzlichem Mut

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Von: Martin Oehlen

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Kenzaburo Oe im Jahr 2015 in Tokio.
Kenzaburo Oe im Jahr 2015 in Tokio. © Imago

In seinen Werken verarbeitete der japanische Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe Privates genauso wie Politisches. Nun ist er im Alter von 88 Jahren verstorben.

Leben und Literatur verbinden sich im Werk von Kenzaburo Oe auf eine einzigartige Weise. Sie ist zum Markenzeichen des japanischen Autors geworden, der im Jahre 1994 mit dem Literaturnobelpreis geehrt worden ist. Das entscheidende Ereignis ist in diesem Zusammenhang die Geburt seines Sohnes Hikari im Jahre 1963: das Baby, so die Diagnose, leidet an einer geistigen Behinderung.

Kenzaburo Oe geht darauf in seinem Roman „Eine persönliche Erfahrung“ ein. Darin lernen wir die Nöte, Ängste und Zweifel des Lehrers Bird kennen, dessen Kind an einer Gehirnhernie leidet. Es geht schlicht um Leben und Tod. Nach allen Untiefen, dem Streit mit der Ehefrau und dem Absturz in den Alkohol, ist Bird am Ende ein anderer Mensch: Er steht zu seinem behinderten Kind, das nun operiert werden soll. Bird sagt: „Ich möchte nur einfach nicht der Mann sein, der immerzu auf der Flucht ist vor seiner Verantwortung.“ Eine intensive, eine fordernde Geschichte.

Auf seine Familie ist Kenzaburo Oe, der 1935 als fünftes von sieben Kindern auf der Insel Shikoku geboren wurde, mehrfach zu sprechen gekommen. So auch in dem Roman „Stille Tage“, in dem es abermals um den behinderten Sohn I-Ah geht. Doch diesmal wird die Geschichte nicht aus der Perspektive des Vaters, sondern der Tochter erzählt. Während die Eltern nach Kalifornien verreist sind, kümmert sich Ma-chan um ihren Bruder (ein jüngerer Bruder ist auch noch mit an Bord). Was sie erlebt, erfahren wir in den sechs Kapiteln ihres „Familientagebuchs“.

Schließlich erzählt der Autor in „Licht scheint auf mein Dach“, im Jahre 1995 in Japan erschienen, ausdrücklich „Die Geschichte meiner Familie“. In diesem Werk, das nicht mehr als Roman firmiert, sondern sich als autobiografische Erzählung erweist, legt er ein Geständnis ab, wozu es, wie er schreibt, eines „schmerzlichen Mutes“ bedürfe: „Ich muss zugeben, dass wir manchmal, besonders ich, die Wut über unseren behinderten Sohn nicht unterdrücken konnten. Das kommt auch jetzt noch manchmal vor.“ Es ist diese schonungslose Offenheit, die einen großen Schriftsteller auszeichnet.

Kenzaburo Oe ist allerdings nicht nur der Autor des Privaten, sondern auch des Politischen. Als Jugendlicher hatte er den Zweiten Weltkrieg im Pazifik erlebt. Jahrzehnte später hält er fest: „Der Atombombenabwurf, den die Menschen in Hiroshima und Nagasaki erfahren haben, war die schlimmste – und das ist keine Übertreibung – Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“

In seiner Heimat mischte er sich ein ums andere Mal in die Debatten ein, gleich so, als wäre er der Böll oder Grass des Fernen Ostens. Kritik übte er nicht zuletzt dann, wenn er das Land auf einem Irrweg Richtung Nationalismus wähnte.

Schon als Student protestierte Kenzaburo Oe gegen die Erweiterung des Militärflughafens Tachikawa. Und im fortgeschrittenen Alter veröffentlichte er seine Okinawa-Notizen, in denen er sich kritisch mit der Weltkriegs-Schlacht und der US-Militärbasis befasste. Das bescherte dem Autor und seinem Verlag einen Gerichtsprozess, der erst 2008 abgeschlossen wurde. Und nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima nahm er im Jahre 2011 teil am Demonstrationszug, der das Ende der Nutzung der Atomkraft forderte.

Kenzaburo Oe glänzt mit einer dichten, abwägenden und genau beobachtenden Prosa. Schon sein Frühwerk, das noch geprägt war von französischen Einflüssen, von Sartre und Camus, wurde mit Preisen bedacht. Für die Kurzgeschichte „Der Fang“ erhielt er im Jahre 1958 den renommierten Akutagawa-Preis – da war er erst 23 Jahre alt, und nie zuvor war ein Träger dieser Auszeichnung jünger gewesen. Zahlreiche Werke folgten, nicht nur diejenigen zur Familie. So die Romantrilogie „Grüner Baum in Flammen“, in der er sich mit den Mythen seines Heimatdorfes befasst, und „Der nasse Tod“, worin er sich an seinen Vater erinnert.

Der Autor selbst hat einmal gesagt, worauf es ihm beim Schreiben ankommt: „Von meiner bisherigen Erfahrung als Schriftsteller aus betrachtet, liegt das Geheimnis eines Romans allein darin, wie er erzählt wird. Es ist natürlich auch wichtig, was für Gedanken, Menschen und Ereignisse geschildert werden, aber noch wichtiger ist es, wie der betreffende Roman erzählt wird, und um das festzulegen und durchzuführen, muss man, bevor man zu schreiben beginnt beziehungsweise bei der Überarbeitung, viel Arbeit aufwenden.“

Dass dieses große Werk, geprägt von einem tiefen Humanismus, auf Deutsch genossen werden kann, ist zahlreichen Übersetzerinnen und Übersetzern zu danken. Darunter sind Ursula Gräfe, Annelie Ortmann, Siegfried Schaarschmidt, Tatsuji Iwabuchi, Otto Putz und vor allem Nora Bierich. Umso mehr muss man dafür dankbar sein, da seine Texte – wie es Ursula Gräfe einmal gesagt hat – wahrlich nicht leicht zu übersetzen sind.

Nun ist Kenzaburo Oe, der Weltautor aus Japan, im Alter von 88 Jahren in Tokio gestorben – und zwar, wie jetzt erst bekannt wurde, bereits am 3. März.

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