Ein Liebhaber der Grenzüberschreitung

Seine Lyrik ließ aufhorchen: Heute vor 75 Jahren wurde der Schriftsteller Wolf Wondratschek geboren.
Unvergessen sein Debüt: „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“, ein gelber Band der Reihe Hanser. Kein Roman, keine Erzählung. Kurze Prosastücke. Darauf hatten wir wohl gewartet. Ohne es zu wissen, aber so sollte man heute schreiben. Das wussten meine Freunde und ich, als wir es lasen. Das war 1969. Die Schlaueren wussten damals sofort: So schreibt ein Lyriker. Als dann Wondratschek einen Lyrikband nach dem anderen vorlegte, runzelten manche die Stirn. Das sei doch gar zu leichtfüßig, gar zu gekonnt, hieß es und immer ein Stück über die Kitschgrenze hinaus. Er solle lieber wieder Prosa schreiben.
Als dann sein erster Roman erschien, entsetzte sich nicht nur das Literarische Quartett darüber: „Einer von der Straße“ (1989). Eine Firmenfestschrift für einen Fürsten der Hamburger Unterwelt, eine Gefälligkeitsarbeit, die er sich womöglich habe fürstlich bezahlen lassen, der Wondratschek.
Die Kritik war sich lange nicht einig. Der Erfolg seiner Lyrik war nicht zu übersehen. Er war neben Erich Fried, womöglich noch vor ihm, über Jahre der erfolgreichste lebende Lyriker deutscher Sprache. Die Bände bei Zweitausendeins verkauften sich bombig. Er war früh Schulstoff geworden. Einer der wenigen Autoren, die Lehrern und Schülern gefielen. Ja sogar Reich-Ranicki fand: „Niemand wird grundlos zum Kultautor“. Ob er es allerdings ausgerechnet mit seinem, so der Chefkritiker, „makellosen Sonett ‚Am Quai von Siracusa‘“ geworden war, darf bezweifelt werden.
Dass Männer und Frauen nicht zusammenpassen, dass sie dazu neigen, den Kampfmodus, in dem sie sich bewegen, als Liebe misszuverstehen, das war wohl eher der Klang, der sein Publikum aufhorchen ließ. Dass dieser Klang immer wieder aus Bordellen und Boxarenen kam, verlieh ihm zusätzlichen Reiz. Denn einerseits war hier offenbar jemand, der der Liebe, wie wir anderen sie erlebten, entfloh, andererseits aber verstand er sich auf die Hilflosigkeit unserer Anstrengungen so gut, dass wir die Annahme pflegen konnten, seine auf uns fremden Terrains erworbene Expertise reiche weit über die unsere hinaus.
Wer einen Wondratschek sehen möchte, wie er ihn nicht ahnt, der sehe sich auf Youtube sein Interview mit Roger Willemsen an. Er erzählt darin von der Erfahrung der Vaterschaft, von der Erkenntnis, dass einer ist, ein Winzling zwar, aber einer, der mit größter Selbstverständlichkeit lachend und schreiend fortwährend einklagt, dass alles sich um ihn zu drehen hat. Wondratschek grinst und sagt: Dabei bin ich doch das Zentrum, um das sich alles zu drehen hat. Aber ich habe keine Chance gegen dieses kleine Bündel Selbstbewusstsein.
„Gefiel ihm eine Frau, entkleidete er sie. / Das ist die Wahrheit. Das ist alles. / Er ließ sich Zeit, Wochen, Monate, ja Jahre, / selbst dem geübtesten Auge wäre nichts aufgefallen. / Das ist alles. Das ist die Wahrheit. / Berührung auf jede Entfernung, / also ein Wunder oder nichts.“ Nach dem ersten „alles“ ein Punkt. Das wäre dummer Machismus. Dann aber dieses „ja Jahre“ und schon sind wir im anderen Extrem der äußersten Schüchternheit.
Dazwischen bewegen wir uns. Wir taten das lange immer wieder mit Wondratschek, und jetzt gibt es die Aussicht, dass wir und die Jüngeren es vielleicht wieder einmal tun werden mit ihm. Der Ullstein-Verlag hat eine Kassette mit seiner Lyrik vorgelegt, dazu eine CD, auf der Schauspieler von Adorf bis Thalbach Wondratscheks Gedichte lesen und einen neuen Roman „Selbstbildnis mit russischem Klavier“. Es ist der Auftakt zu einer nach und nach erscheinenden Gesamtausgabe.
Wolf Wondratschek ist ein Liebhaber der Grenzüberschreitung. Er liebt Joseph Haydn und Patti Smith, Bob Dylan und Schönberg. Er geht gerne in Konzerte der allerneuesten Musik, dort, so sagte er einmal, „genieße er die Abstraktion“. In der zeitgenössischen Musik habe die sich in einer Radikalität durchgesetzt, wie man sie in der Literatur nicht finden könne.
Wer den Geruch von Liebes- und Kampfschweiß der frühen Gedichte des Wolf Wondratschek, wer ihre begeisterte und auch begeisternde Sinnlichkeit liebte, der wird sich wundern darüber, dass Wondratschek vom Genießen der Abstraktion spricht. Aber das ist keine Alterserscheinung. Schon damals gab es beides. Wondratschek hatte nie Angst vor Kitschberührung. So wenig wie Maria Callas und so wenig wie Patti Smith. Er wusste immer, dass Sinnlichkeit und Abstraktion Gegensätze sein mögen, aber gerade darum zusammengehören. Sie funktionieren nur miteinander.
Das letzte Gedicht des letzten Bandes ist eines für seinen Freund Fritz Raddatz. Wondratschek las es vor, als Bundespräsident Christian Wulff im Dezember 2011 zu einem kleinen Festessen zu Ehren von Fritz J. Raddatz eingeladen hatte:
„Ein Toast Es war wie ein Weinen. / Es war wie ein Amen für einen, / der nicht glaubt. Es war / wie ein Stein fällt. / Alles, was ich bin, kam mir plötzlich lächerlich vor, / die handgearbeiteten Schuhe, die Seide meiner Krawatte, / der Wunsch, berühmt zu sein, der mich zum Kettenraucher gemacht hat, / der Luxus meiner Intelligenz. / Ich bin unerbittlich. Ich will bezahlt werden. / Ich will für jeden Atemzug, den ich mache, bezahlt werden. / Ich bin der Mann, der nur eines nicht kann: einschlafen. / Dann höre ich es. / Es ist wie ein Weinen. / Es ist wie ein Amen für einen, / der nicht glaubt. Es ist / wie ein Fluch. /Aber das, liebes Tagebuch, / muß unter uns bleiben.“