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Lew Kopelew: „Christlich fühlender Bolschewik“

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Von: Micha Brumlik

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Lew Kopelew mit seiner Ehefrau Raissa Orlowa, 1987.
Lew Kopelew mit seiner Ehefrau Raissa Orlowa, 1987. © Imago

Dimitrij Belkin legt eine aufschlussreiche Kurzbiografie des sowjetisch-ukrainisch-jüdischen Dissidenten Lew Kopelew vor.

Wie seit Langem nicht mehr beschäftigen Russland, seine Menschen und seine Kultur die deutsche Öffentlichkeit; Anlass dafür sind die Energiekrise sowie – vor allem – der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine. Umgekehrt befasste sich der Autor Lew Kopelew als sowjetischer, in Deutschland lebender Dissident stets mit Deutschland und den Deutschen.

1981 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – die mit Kopelew befreundete Herausgeberin der „Zeit“, Marion Gräfin Dönhoff, hielt die Preisrede. Kopelew, 1912 in Bodjanka in der Ukraine geboren, wurde damit als zumal verständigungswilliger, germanistisch seit seiner Jugend hochgebildeter Publizist und Aktivist ausgezeichnet. Bis heute freilich ist kaum bekannt, dass Kopelew in jüngeren Jahren an Stalins mörderischem Kampf gegen die Großbauern, die Kulaken sowie an dem Holodomor in der Ukraine teil genommen hatte. Zudem entstammte er einer assimilierten jüdischen Familie und wies somit eine ganz eigene, jüdische Identität auf.

Daher ist die soeben erschienene Kurzbiografie Kopelews in der von Hentrich&Hentrich herausgegebenen Reihe „Jüdische Miniaturen“ gerade heute von besonderem Wert. Der Autor, der 1971 ebenfalls in der Ukraine geborene Dimitrij Belkin, leitet derzeit die dem Zentralrat der Juden zugehörige Denkfabrik „Schalom Aleikum“ und ist zudem Autor einer vielbeachteten Autobiografie, „Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“ (2016). Belkin, der die UdSSR als Jugendlicher verließ, weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, zwischen den Kulturen groß zu werden, weshalb die Charakterisierung Kopelews als eines „christlich fühlenden Bolschewiken“ unbedingt zutrifft. Schrieb doch Kopelew in seinen Erinnerungen über seine Bar Mitzva im Jahre 1925: „Mein Gott wurde der gute Vater aller Menschen (...) der Gott Tolstois (...) der Gott Schillers und Dickens’.“

Das Buch

Dimitrij Belkin: Lew Kopelew. Der Transitmann. Hentrich& Hentrich, Leipzig 2023. 97 Seiten, 9,90 Euro.

Tatsächlich: Der studierte Germanist Kopelew empörte sich als Mitglied der Roten Armee in den 1940er Jahren über die an Deutschen begangenen Kriegsverbrechen, was ihm einige Jahre der Haft im Gulag einbrachte. Bei alledem war sich Kopelew der Shoah und – nach dem Krieg – der Existenz des jüdischen Staates wohl bewusst; war aber, im Unterschied zu hunderttausenden sowjetischen Juden, niemals willens oder bereit, dorthin zu emigrieren. Stattdessen – er war bereits Dissident – folgten er und seine Frau 1980 einer Einladung Heinrich Bölls und der Gräfin Dönhoff nach Köln, wo er, bald von der UdSSR ausgebürgert, 1997 starb, um gleichwohl in der Ukraine beigesetzt zu werden.

Der eigentümliche Titel das schmalen Buchs erweckt derzeit – jedenfalls beim Schreiber dieser Zeilen – Assoziationen an vielfältige sexualsoziologische Befunde. Man könnte nicht falscher liegen. Die 1983 verstorbene Anna Seghers nannte (in einem unveröffentlichten Brief) Kopelew so – mit Blick auf ihren 1941 im mexikanischen Exil geschriebenen Roman „Transit“.

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