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„Leuchtende Schafe“ von Ulrike Almut Sandig: Zippelonika an guten und an schlechten Tagen

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Von: Eberhard Geisler

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Ulrike Almut Sandig.
Ulrike Almut Sandig. © Michael Aust

Nur schläfrig ist sie nie: „Leuchtende Schafe“ heißt ein Band mit hellwachen Gedichten von Ulrike Almut Sandig.

Zippelonika ist ein weibliches Wesen aus einem alten Kinderlied, das auch schon Peter Rühmkorf zitiert hat. Ulrike Almut Sandig hat es sich in ihrem neuen Gedichtband gerne zum Motto gewählt. „Zipp Zippelipp Zippelonika ... und ich weiß auch, wo sie wohnt / nämlich dreimal hinterm Mond“. Bekommt diese Figur, die sich um die Kunterbuntheit ihrer Attribute nicht schert – „die hat Augen wie Kakao / eine dicke fette Leberwurst“ – und dergestalt aus allem herauskatapultiert hat, denn überhaupt nicht mehr mit, was bei uns auf der Erde alles geschieht? Keine Sorge: die Dichterin lebt in der Hauptstadt, ist hervorragend mit anderen Künstlern vernetzt, ständig auf dem Quivive und weiß, was zu tun ist.

Sandig verortet ihr Schreiben zunächst bei sich selbst, fragt nach ihrem eigenen Befinden und erinnert sich an Zeiten, in denen sie Kind und eine Heranwachsende im sächsischen Großenhain bei Meißen gewesen war. Alles gehört dazu, wenn es darum geht, die Vielfalt ihrer Seelenzustände zum Ausdruck zu bringen: „an schlechten Tagen ist Zippelonika eine Festung“ – „an guten Tagen ist Zippelonika eine Hüpfburg“. Sandig wirbelt das Disparate zusammen, Marienanbetung und eigene knospende Körperlichkeit, weil ja alles zu ihrer Existenz gehört, die tief zu erleben sie sich gestattet.

Wenn man das neue Buch durchblättert, fällt auf, dass die Dichterin einzelne Wörter durch Fettdruck hervorgehoben hat. Da muss offenbar auf etwas bestanden werden, dem zugleich nachgefragt werden muss. Tatsächlich praktiziert Sandig die Kunst eines Insistierens, die jedoch weit über den Verdacht erhaben ist, bloß auf der Stelle zu treten. „Ich hab so viele Wörter in mir / wie dreihundert Jahre Vaterunser in Schleife“. Am Ende sollen Insistenz und Wiederholung zu wahrer Wortfülle führen.

Das Buch:

Ulrike Almut Sandig: Leuchtende Schafe. Gedichte. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2022. 112 Seiten, 26 Euro.

In ihrem Gedicht „Leuchtende Schafe“ setzt sich die Dichterin mit Friedrich Hölderlin auseinander, den sie zitiert und fortschreibt. Sascha Conrad hat in Zusammenarbeit mit dem jungen ukrainischen Lyriker Grigori Semenchuk einen Kurzfilm über dieses Gedicht gedreht, der für den Hölderlin-Turm in Tübingen bestimmt war, für das Literaturfestival Poetry on the road 2021 ausgewählt wurde und auf Youtube zu sehen ist.

„Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen / die Vergesslichkeit uns zu Idioten, die wir sind.“ Die erste Zeile stammt von Hölderlin, die zweite von ihr. Das Wort von den leuchtenden Schafen legt sie dem Dichter in den Mund, um die von fernher kommende, von fernher leuchtende Sanftheit zu grüßen, die sie in seinen Versen erkennt. „Sag: leuchtende Schafe, leuchtende Schafe, / leuchtende Schafe, Friedrich, und jetzt // schlafe ein.“ Schön, wenn Dichter und Dichterinnen wie Sandig jetzt noch wachbleiben wollen.

Als Gedicht für das Lesebuch der Oberstufe empfiehlt sich unbedingt auch dieses: „Dreh dich, metallisches Mädchen // Aber dreh mir die Worte nicht um. / Leuchte mir lieber zum Zeichen // Dass auch im total zerschnittenen Licht / Noch jemand da ist, der spricht.“ Feinfühlig wird die geistige Situation einer Zeit wahrgenommen, in der so vieles, was als Erhellung des Horizonts gelten konnte, tausendmal zerlegt und negiert worden ist. Wir lesen hier aber von einer Verteidigung des Bestands der Sprache, deren Standfestigkeit niemand in Frage stellen soll, und die keinen Wortverdrehern in die schmutzigen Hände fallen darf.

Worum es hier geht, könnte man sagen, ist die Idee einer Rebellion, die aus dem Urgrund hervorbricht. Anders formuliert: die Kreatur reibt sich die Augen und beharrt auf sich selbst. Dichtung begreift sich als Wurzelwerk und wird aktuell.

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