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Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff: Die letzten Dinge

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Von: Judith von Sternburg

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Sibylle Lewitscharoff.
Sibylle Lewitscharoff. © imago/Manfred Segerer

Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff.

Auch wenn „Pong“ und „Apostoloff“ ihre berühmtesten Bücher sind, ist „Blumenberg“ gewiss ihr enormstes. Mit „Pong“ – nicht ihrem Debüt, aber ihrer ersten großen Chance auf einem Markt, den zu bedienen weiß Gott nicht in ihrem Interesse lag – betrat sie mit Mitte vierzig 1998 die ganz große Literaturbühne und gewann im Eiltempo den Ingeborg-Bachmann-Preis. So durchgeknallt wie in „Pong“ war in der deutschsprachigen Literatur länger kein Verrückter mehr aufgetreten. Jubel für eine nicht besonders bekannte Berliner Autorin, hieß es damals, einer Berlinerin, die 1954 aber in Stuttgart geboren worden war. Das gab ihr artikulatorische Möglichkeiten, die sie gerne ausspielte.

Dass es noch einen anderen Hintergrund gab, verrieten ihr Nachname und „Apostoloff“ (2009), eine veritable Road Novel über zwei Schwestern, die die sterblichen Überreste des Vaters in einem denkwürdigen Konvoi mit den Särgen anderer Exilbulgaren in die „alte Heimat“ gebracht haben. Nun erleben sie eine bizarre Rückfahrt, am Steuer: Apostoloff.

In „Apostoloff“ (in „Pong“ aber auch schon) kultivierte Sibylle Lewitscharoff die ihr in besonders reichem Maße zur Verfügung stehende Tirade. Das heißt, dass Apostoloff (und nicht nur er) schimpft wie ein Rohrspatz, der rhetorisch ausgezeichnet ausgebildet ist (man will nicht wissen, was sie zur „Road Novel“ gesagt hätte, den „Rohrspatz“ hätte sie sicher gemocht).

Ernsthaft Schimpfe bekam sie

Es gibt nichts Sinnloseres, als Lewitscharoffs Werk autobiografisch zu lesen, ihr Vater, ein Arzt, war allerdings in der Tat in den 40er Jahren aus Bulgarien nach Deutschland ins Exil gegangen. Er nahm sich das Leben, als seine Tochter elf Jahre alt war. Und auch Sibylle Lewitscharoff war eine rhetorisch versierte Rednerin, und dass sie etwa bei ihren höchst unterhaltsamen Frankfurter Poetikvorlesungen 2011 der gegenwärtigen Theaterregie einen mitgab, war noch relativ harmlos (konservativ war es auch, und übrigens gab sie in Frankfurt erfrischenderweise auch dem „kurzen Satz“ einen mit). Ernsthaft Schimpfe bekam sie hingegen, als sie 2014 in Dresden gegen das „das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse“ wetterte und damit künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft meinte. Sie sei, so Lewitscharoff haltlos, „sogar geneigt, die Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen“.

Immer mit offenem Visier

Trotzdem muss man sagen, dass sich niemand munterer um Kopf und Kragen redete als Lewitscharoff, eine freundliche Frau, nicht „kämpferisch“ im engeren Sinne, meist mit offenem Visier. Manchmal bat sie um Nachsicht und – häufiger, als es im Gefecht dann wahrgenommen wurde – sagte selbst dazu, dass sie übertreibe.

Intellektuelle Schärfe und bodenständig schwäbischer Ton machten Lewitscharoff auch zu einer vorzüglichen und gerne eingeladenen Laudatorin. Unvergessen, wie sie den Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius lobte – wenige Jahre bevor sie dann selbst 2013 die Auszeichnung erhielt –, indem sie nicht zuletzt ihrer Überraschung über die immense Qualität seiner Texte Ausdruck gab. Ziemlich frech.

Ihr ausgeprägtes Bewusstsein für Form, das sich nie in einem Gedichtband ausdrückte, führte sie gleichwohl zu diversen Gattungen. 2014 kam der verblüffend schwache Krimi „Killmousky“ heraus, als sei auch dies ein Spiel: einen schlechten Krimi zu schreiben. Diesen Bonus, falls es ein Bonus ist, konnte man gelegentlich anwenden – auch der skurril betuliche Dante-Kongress-Roman „Das Pfingstwunder“ von 2016 schwächelt, und dahinter muss Absicht stecken. Aber welche?

Schon 2012 wurde ihr einziges Theaterstück uraufgeführt, „Vor dem Gericht“. Ein feines Konversationsstück, das unter Toten spielt, Toten, die auch nur Menschen sind. Lewitscharoff, die Religionswissenschaften studiert hatte, interessierte sich für die letzten Dinge. Auch in „Blumenberg“ – der Namensgeber ist der Philosoph – wird gestorben. Davon erzählt hier einer, der über den „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Hans Blumenberg) erhaben ist und also auch wissen und berichten kann, wie es danach weitergeht. Er, also natürlich Lewitscharoff, schildert einen wattigen Paradieszustand. Das ist sehr schön, vermutlich.

2019 kam ihr letzter Roman heraus, „Von oben“. Schon länger war bekannt, dass sie an Multiple Sklerose erkrankt war. Wie der Suhrkamp Verlag am Sonntag mitteilte, ist Sibylle Lewitscharoff am Samstag im Alter von 69 Jahren gestorben.

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