Der Hass, die Liebe, der Swing

Ein polnischer Jude in Frankfurt, 1943: Leopold Tyrmands großartiger autobiografischer Roman „Filip“ erscheint endlich auf Deutsch.
Die Angst, die allgegenwärtig ist. Aber auch die überbordende Lust am Leben, die Wut auf den Nationalsozialismus, ein gehöriger Überschuss an Abenteurertum. Widerstreitende Gefühle beherrschen dieses rasante Zeitprotokoll.
„Filip“ erzählt eine irrwitzige Geschichte: Die Erlebnisse eines jungen polnischen Juden, der im Jahre 1943 im Herzen des NS-Staates untertaucht, tollkühn als Franzose getarnt, als Kellner in einem Luxushotel in Frankfurt am Main. Der polnische Schriftsteller Leopold Tyrmand hat diesen Roman 1961 in Warschau veröffentlicht, damals fast unbeachtet von der Kritik, zu einer Zeit, da der Autor schon von den Behörden wegen seiner Aufmüpfigkeit gegen die kommunistischen Verhältnisse misstrauisch beäugt wurde. Erst jetzt, 60 Jahre später, erscheint das Buch erstmals in deutscher Übersetzung, es ist eine literarische Trouvaille.
Als der Frankfurter Verleger Joachim Unseld 2019 durch Zufall bei einer Lesung von der Existenz des Textes erfuhr, konnte er die Geschichte kaum glauben. Denn Tyrmand verarbeitete in diesem vergessenen Manuskript seine eigenen Erlebnisse als 23-Jähriger. Unseld nahm sofort mit dem Sohn des 1985 gestorbenen Autors Kontakt auf, der in den USA lebt, und erwarb von ihm die Rechte.
Der Roman erzählt gerade nicht die Geschichte eines strahlenden Helden, sondern die eines jungen Mannes, der eher durch eine Kette von Zufällen in einen Mahlstrom gerät, der ihn mit fortreißt. Filip ist auch ein Filou, der mit allerlei Tricks um das tägliche Überleben kämpft, der keinen Plan hat, der aber auch seine Jugend genießen will, die Frauen, den Sex.
Die Jugendjahre des Abiturienten in Polen vor dem Einmarsch der Wehrmacht 1939 sind beherrscht von „kalifornischen und Pariser Phantasien“, von Träumen, die von literarischen und Kino-Figuren von Mark Twain, Arthur Conan Doyle, Jack London, Zane Grey geprägt werden. Als die Deutschen kamen, „blieb uns nichts als Hass und Kampf“, schreibt Tyrmand. Aber auch dieser Kampf steht im Zeichen eines gewissen übermütigen Dandytums, von „Bühnenbild und Stilisierung“.
Durch Zufall gelangt Filip in den Besitz eines gefälschten Fremdenpasses, der ihn als in Warschau geborenen Franzosen ausweist. Mit diesem Dokument wagt er die Reise als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland. Der Autor dokumentiert auf das Genaueste den Alltag des Nazi-Staates zu einer Zeit, zu der alle schon ahnen, dass der blutige Krieg, den Hitler vom Zaun gebrochen hat, verloren ist. Die präzise Zeichnung der Banalität des Bösen macht den Reiz des Romans aus.
Die Menschen arrangieren sich mit dem Terror des Regimes, suchen das Vergessen im heißen Sommer 1943. Da bietet das Flussbad Mosler am Main willkommene Ablenkung. Getrieben von ihrer Sehnsucht lungern die jungen Männer in knappsten Badehosen dort herum und versuchen irgendwie, mit Frauen ihres Alters in Kontakt zu kommen.
Das Buch:
Leopold Tyrmand: Filip. Roman. A. d. Poln. von Peter Oliver Loew.
Frankfurter Verlagsanstalt 2021. 500 S., 24 Euro.
Das luxuriöse Parkhotel nahe des Hauptbahnhofs scheint eine Insel inmitten von Bombenangriffen, Lebensmittelknappheit, Schaufenstern mit ärmlichen Papp-Attrappen. Die Nazi-Bonzen und Industriellen, die im Hotel dinieren, als gäbe es kein Morgen, sind das besondere Hass-Subjekt der Kellner. Sie spucken diesen Gästen buchstäblich in die Suppe, zweigen sich von den Tischen ab, was nur geht, vom Wein bis zur Rehpastete. Ein Höhepunkt des Romans ist die verschwenderisch ausgestattete Hochzeit der Nichte des Reichswirtschaftsministers Walther Funk. Tyrmand malt die kalten Täter, begleitet von „germanischen Nymphen“, Szenen, die an Bilder von George Grosz erinnern. Filip bekennt sich hier zu einem „rachsüchtigen Hass“ auf die Mörder seines Volkes.
Von Zeit zu Zeit schläft der junge Mann mit Frauen, die ihm nichts bedeuten. Dann begegnet er im Flussbad Mosler dem Mädchen Hella, und plötzlich taucht ein Begriff auf, den er bisher weit von sich gewiesen hat: Liebe. Mit Filip und Hella lernen wir die Orte kennen, in denen sich die bürgerliche Jugend während des Krieges traf, um den verbotenen Swing zu hören, etwa die Cafés Rumpelmayer oder Schumann. Die beiden leben in der Gegenwart, verschwenden keinen Gedanken an die Zukunft, wissen noch nichts von der „hässlichen Zentrifuge der Zeit“. Sie, schreibt Tyrmand, beginne erst in der Mitte des Lebens zu arbeiten: „Die Tage fliegen, als würde man sie von der hinteren Plattform einer rasch fahrenden Straßenbahn aus betrachten.“
Die Zeit bleibt nicht stehen. Und so kommen auch immer öfter die Bomber der Alliierten. Anfangs wähnt sich die Frankfurter Bevölkerung in Sicherheit, weil sie glaubt, die Amerikaner hätten sich die Stadt als Zentrum des eroberten Deutschlands auserkoren. Doch diese Ahnung (die sich als richtig erweisen sollte) rettet die Menschen nicht vor der todbringenden Fracht, die vom Himmel stürzt.
Filip erlebt einen schweren Angriff auf die Altstadt, hier verdichtet sich der Roman zu einem intensiven Zusammenspiel von Tönen, Farben „mit der erschreckenden kosmischen Geschwindigkeit einer Geißel Gottes, einer elementaren Katastrophe aus übermenschlichen Kräften, Rechten und Strukturen“.
Am Ende scheitert die Liebe Filips zu Hella, die Gestapo ist ihm auf den Fersen. In der Wirklichkeit entkam Tyrmand nach Wien, wurde später auf der Fähre ins neutrale Schweden von den Nazis verhaftet und erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges in einem norwegischen Lager.
Seine Geschichte ist die eines Jedermann, der schwankt zwischen Widerstand gegen und Anpassung an die grausamen Verhältnisse. An wenigen Stellen tritt der Schriftsteller aus dem Roman heraus. Einmal nimmt er für sich in Anspruch, „dass ich niemandem Unrecht getan habe, unter Umständen, unter denen es sehr schwer war, dies zu vermeiden. Aber es ist mir gelungen.“
Die Frage, wie sich jemand verhält in Zeiten existenzieller Herausforderung, ob er aufrecht bleibt oder sich beugt, macht „Filip“ in der Gegenwart aktuell und lesenswert. Der Journalist Tyrmand, der mit Marcel Reich-Ranicki befreundet war, führte im kommunistischen Polen der Nachkriegszeit ein unangepasstes, geradezu mondänes Leben, spielte Tennis, organisierte Jazz-Festivals. Nachdem er 1966 in die USA emigriert war, wandelte er sich dort zum konservativen Kritiker der 68er-Revolte.
„Buchpremiere“ mit Übersetzer Peter Oliver Loew am 25. März, 18.30 Uhr, im Livestream via www.amka.de/live