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Lena Andersson: „Der gewöhnliche Mensch“ – Das monolithische Ich

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Von: Stefan Michalzik

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Lena Andersson. Foto: bokforlagetpolaris.se
Lena Andersson. Foto: bokforlagetpolaris.se © bokforlagetpolaris.se

Lena Andersson erzählt in ihrem Roman „Der gewöhnliche Mensch“ von der Epoche des sozialreformerischen schwedischen Volksheims.

Ein Leben wird besichtigt und anhand dieses Lebens eine Epoche in dem auf Deutsch unter dem Titel „Ein gewöhnlicher Mensch“ veröffentlichten Roman der schwedischen Erfolgsschriftstellerin Lena Andersson, Jahrgang 1970. Beim Verlag scheint man der Ansicht zu sein, der griffige Titel sei besser als die Entsprechung des originalen, der übersetzt „Sveas Sohn. Eine Erzählung über das Volksheim“ lautet.

Svea ist Johanssons Mutter, zugleich ist „Mutter Svea“ die schwedische Nationalallegorie. Die Epoche, um die es geht, ist die des Volksheims, eines sozialdemokratisch-modernistischen Reformprojekts, das vom Gedanken des sorgenden Staates geprägt war. Ragnar Johansson ist 1936 geboren, im Jahr des ersten Wahlsiegs der Sozialdemokraten, zugleich der Beginn einer beinahe fünf Jahrzehnte währenden Regierungsära.

Am Anfang steht eine Art Brechtscher Kniff: Eine Ethnologin von der Universität Uppsala will über das Volksheim als Feld mentaler Prozesse und sozialer Mobilität schreiben. Johanssons Tochter Elsa schlägt ihren betagten Vater als Interviewpartner vor. Für das Projekt, so der Befund der Wissenschaftlerin, ist Johansson jedoch nicht geeignet – er sei zu normal. Die Haltung des Besichtigens, des analytisch-distanzierten Blickes ist es, die die Erzähltechnik von Lena Andersson prägt. Ragnar Johansson wird gezeichnet als ein in jeder Hinsicht durchschnittlicher Schwede des 20. Jahrhunderts.

Das Streben nach Höherem liegt ihm in jungen Jahren zwar keineswegs fern, am liebsten wäre er Künstler geworden oder Architekt. „Von Größe zu träumen hieß, das Normale für untauglich zu erklären“, lautet jedoch seine Denkart, so lernt er zunächst Möbeltischler. Sich hochzuarbeiten bis zum Lehrer für Holz- und Metallbearbeitung an einer Oberstufe, das geht noch an. Als ihm aber der Direktor den Posten als Studienleiter anbietet, lehnt er ab. Die „beständige Normalverteilungskurve“, so heißt es, stelle die Grundlage der schwedischen Gesellschaft dar, und nicht Vorstellungen von der Aufhebung der Gesetze der Schwerkraft.

Die Architektur stellt ein wichtiges Feld dar für diesen Gesellschaftsentwurf, in dem alles auf Rationalität und Zweckdienlichkeit gründet. Pittoreske alte Stadtviertel werden abgerissen, neue Siedlungen gebaut wie jene, in die Johansson in den 70er Jahren mit seiner gerade gegründeten Familie einzieht. Es leuchtet ihm alles ein an einer Planung, die am Praktischen ausgerichtet ist und an den Eigenschaften des Idealen, im Sinne einer vollkommenen Gesellschaft. In gebildeten Kreisen, so Ragnar Johanssons Sicht, wird hingegen eine Romantisierung des Menschenunwürdigen betrieben, der vermeintlich so heimeligen alten Bruchbuden mit Zugluft und Außenklo.

Das Buch

Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch. Roman. A. d. Schwed. v. Antje Rávik Strubel. Luchterhand, München 2022. 284 S., 24 Euro.

Die Räume in den neuen Häusern sind geräumig und hell, trotz allem ziehen viele so schnell wie möglich wieder weg, die Migrantenquote steigt. Als die Mitglieder des Lehrerkollegiums angesichts von Integrationsproblemen und sinkendem Unterrichtsniveau einen besorgten Brief an die Schulbehörde richten, warnt diese vor einer fremdenfeindlichen Tendenz.

Demokratisch wie die Architektur gedacht auch das: die Fertignahrung ist eingezogen in die Küchen. Das Pulver, von Chemikern auf den perfekten Nährwert abgestimmt, wird gefeiert als Diener des Menschen und Befreier der Frau. Niemand soll mehr dick und krank werden.

Keinerlei Verständnis hat Ragnar Johansson für die, die Ende der 60er Jahre anfangen, sich zu beschweren und Häuser zu besetzen. Aus seiner Sicht tauchen sie auf wie Frankensteinsche Monster und wissen offenbar nicht, wie man für ein anständiges Leben selbst zu sorgen hat. Nach seinem Dafürhalten ist es nicht das Abweichende, das Schutz braucht, sondern das Gewöhnliche.

Irgendwann, im Lauf der 80er Jahre, beginnt alles plötzlich anders zu werden. Das kommt einem vertraut vor – die Weltgeschichte ist angeblich an ihrem Ende angekommen und schreitet naturgemäß trotzdem weiter fort. Das Kommunikationswesen wird privatisiert, die grauen Apparate gegen solche in vielen Ausführungen und Farben ausgetauscht, die Zahl der Fernsehsender nimmt zu, die Schulen wetteifern um Kinder und die Post um Briefe. Postmoderne, Neoliberalismus. Ohne Verständnis beäugt Ragnar Johansson, der eine Hochachtung für den Wettkampf im Sport empfand, diese Form des Konkurrierens. Im Übrigen bekommt er erstmals Morddrohungen von Schülern.

Das Buch, übersetzt von der Schriftstellerin Antje Rávik Strubel, ist formal durch und durch überzeugend erzählt, in seiner distanzierten Art fasslich und von einer im besten Sinne trockenen Klarheit. Ragnar Johansson wird als „monolithisches Ich“ vorgestellt, ein auf seine Weise Konservativer aus einer als überholt abgestempelten Fortschrittsbewegung. In das „Fragmentarische, Zerfallende, Unklare und Aufgelöste“, das sich – einhergehend mit der Popularisierung des Internets – nun auftut, passt er, wie er selbst erkennt, nicht hinein.

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