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Leïla Slimani: Chancen durch Chirurgie

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Von: Stefan Michalzik

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Leïla Slimani. Foto: AFP
Leïla Slimani. © AFP

Zwei neue Bücher der französisch-marokkanischen Schriftstellerin erzählen die Vergangenheit auf spannende Weise neu.

Schönheitsoperationen, das ist der Lektüre der Graphic Novel „Eine freie Frau“ von der gefeierten französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani und dem Illustrator Clément Oubrerie zu entnehmen, sind seit den Anfängen vor ungefähr hundert Jahren an umstritten gewesen. Von der medizinischen Seite her, mit dem Argument, an einem gesunden Körper herumzuschneiden sei verwerflich im Sinne des ärztlichen Ethos, vor allem aber auch vom feministischen Standpunkt.

In einer Szene in diesem biografischen Roman sieht sich die französische Ärztin Suzanne Noël (1878 -1954), eine Pionierin der ästhetischen Chirurgie, mit der herausfordernden Frage einer Feministin konfrontiert, ob sie nicht fürchte, dass die Schönheitschirurgie die Frauen auf das oberflächliche und eitle Bild reduziert, das sich die Männer von ihnen machen.

Mit Oberflächlichkeit, so ihre Antwort, habe das nichts zu tun. Die moderne Frau sorge für sich, sie behauptet sich. Schönheit stelle für die Frau eine Art Kapital dar. Die Frau bestimmt über ihr Leben und ihren Körper selbst – eben auch mit den Mitteln der ästhetischen Chirurgie. Noëls Argumentation: Alternde Frauen finden keine Arbeit mehr und verlieren ihre finanzielle Unabhängigkeit. Die ästhetische Chirurgie gebe ihnen ihre Macht zurück. Prominente wie die mythisch berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt hat Noël operiert, als Luxusprodukt für Reiche hat sie ihre Arbeit jedoch nicht angesehen.

Die Näherin, der entstellte Schuhmacher – die Schönheitschirurgie erhöhe die Chancen auf dem Arbeitsmarkt beziehungsweise für das Geschäft. Darum solle sie allen offenstehen. Jede zahlt was sie kann, notfalls später oder in Raten.

Die Bilder sind meist in erdigen Farbtönen gehalten, der nostalgisch klassische Zeichenstil kommt der erzählten Zeit nahe. Nicht selten lassen Slimani und Oubrerie eine Folge von Bilder ohne Text sprechen, in Annäherung an dramaturgische Mittel des Films. Zu Beginn des zweiten der beiden in Frankreich separat veröffentlichten Teile ist eine Bildfolge um die trauernde Suzanne allein in ihrer Wohnung zu sehen, auf dem Klavier steht ein Bild ihrer Tochter Jacqueline mit einem Trauerflor. Am Ende des ersten Teils – Cliffhanger – war Jacqueline an der Spanischen Grippe erkrankt.

Die Bücher

Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht. Luchterhand, 2022. 160 Seiten, 20 Euro.

Leïla Slimani, Clément Oubrerie: Eine freie Frau. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. btb-Verlag, 2022. 191 Seiten, 16 Euro.

Die private Vita erscheint dramatisch: Vom ersten, fabelhaft fortschrittlichen Mann, einem Kollegen, trennt Suzanne sich, nachdem sie sich in einen anderen verliebt hat. Sie nimmt an Demonstrationen für das Frauenwahlrecht teil, der Mann kanzelt ihr Engagement ab und wird gewalttätig. Als sie den Trunksüchtigen in ein Sanatorium bringen will, stürzt er sich in die Seine und ertrinkt. Schon zuvor ist der – nach wie vor geliebte – erste Mann im Ersten Weltkrieg umgekommen.

1924 hat Noël den Pariser Soroptimisten-Club gegründet, eine feministische Vereinigung. Die Männer sichern sich ihre Macht, indem sie in den Hinterzimmern ihrer Clubs und Salons Zigarre rauchen – die wunderbarste Waffe einer Frau, so ist es Noël in eine Sprechblase gelegt, ist der Rückhalt ihrer Schwestern.

In den Bildern der im Zuge einer Vortragsreise durch Europa besuchten Metropole Berlin wird der babylonische Metropolen-Expressionismus der Zeit mit den charakteristischen Schrägen zitiert. Besonders eindrücklich die expressive Bildästhetik in hellerleuchtetem Gelb im Wechsel mit Feuerrot in sieben schwarz gerahmten Seiten zum Ende hin, die vom Verlust des Augenlichts erzählen. An das Operieren ist nicht mehr zu denken, die finanziellen Auswirkungen sind fatal.

Soeben auf Deutsch erschienen ist gerade auch ein weiteres, nicht minder bemerkenswertes Buch von Leïla Slimani. Bei „Der Duft der Blumen bei Nacht“ handelt es sich um eine Art Poetikvorlesung, eine Erzählung über das Schreiben und seine Voraussetzungen und das Verhältnis von Leben und Fiktion, entlang des Erlebnisses einer Situation der Klausur, einer Nacht allein mit sich selbst und der Kunst in einem Museum in Venedig.

Einen historischen Roman zu schreiben – das gilt nicht minder für die biografische Graphic Novel –, das laufe auf eine Science Fiction über die Vergangenheit hinaus. Schreibe sie etwa über ihren Vater, so Slimani, verwandeln die Worte, die sie tragen, ihn in eine Romanfigur.

Es geht um das Verhältnis – „so lala“ – zu dem Vater, der ob der vermeintlichen Verwicklung in einen spektakulären Finanzskandal in Frankreich im Gefängnis gewesen ist, nach seinem Tod jedoch freigesprochen wurde, und um das Leben zwischen zwei Welten, jener der Kindheit und Jugend in Marokko und der ihres heutigen Lebens in Paris.

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