„Leichtfüßig möchte ich werden“

Zum Tod des vielgelesenen und doch auch unterschätzten Schweizer Schriftstellers Markus Werner, der mit „Zündels Abgang“ auf einen Schlag bekannt wurde.
Wenn man vom Literaturwettbewerb in Klagenfurtzurückkommt und aus traurigem Anlass just in den Büchern des Schweizer Schriftstellers Markus Werner herumliest, wird jäh wieder offenbar, wie viele Autoren im Jahr 2016 unbedingt so schreiben möchten, wie Werner es schon 1984 ganz selbstverständlich und damals gegen den Trend tat. Das kommt leicht daher, ironisch, manchmal geradezu komödiantisch, aber jedes Wort sitzt, und dahinter gleich ein Abgrund von Traurigkeit.
Blenden wir einmal in „Zündels Abgang“ hinein: „Die Stadt (Zürich ist gemeint) sieht aus, als leckte eine Million Zungen sie unaufhörlich sauber. Schick sind die Leute gekleidet, einige auch mit Sorgfalt schlampig. Breitspurig ist ihr Dialekt, verkrampft und schief ihr Gang, und ich bin ein alter Griesgram, da kommt meine Tram.“
Und noch ein vor Jahren, Jahrzehnten angestrichener Satz aus Werners Debütroman: „Leichtfüßig möchte ich werden, dachte er. Frohmütig, beschwingt und unernst, ein Eichhörnchen, mein Gott, ich schaff es nicht, ich schaff es nicht.“
Im Gegensatz zur herkömmlichen Welt
Konrad Zündel, der titelgebende Held, ist der erste von etlichen folgenden Werner-Heroen, die es unversehens aus der Bahn wirft, in einen vorerst gar nicht so ernst genommenen, dann aber doch unüberwindlichen Gegensatz zur herkömmlichen Welt verschlägt. Zündel verschwindet dann bekanntlich auf den letzten Zeilen des Buches, wie der Titel schon sagt, nur das Schriftliche bleibt zurück.
Als bis dato unauffällig lebende Schweizer und mit einem ausgeprägten Gefühl ihrer eigenen Unzulänglichkeit ausgestattet – und übrigens auch als intensive, und intensiv unzufriedene Zeitungsleser – treten dem Leser Markus Werners Figuren entgegen. Ungefähr also so, wie Werner sich selbst beschrieb. „Eichhörnchen, Birken und freundliche Nächte sagen mir zu. Ich bestaune jeden, der sich knitterfrei kleidet. … Einst wollte ich Jäger werden, nun bin ich Lehrer, was sonst. Schön ist ein lautloses Frühstück. Ich rauche, schreibe stockend, wohne ländlich. Dem Weltgeschehen schenk ich Interesse und Wut, aber ich glaube, es pfeift drauf. Gern wäre ich länger, runder und eine Spur beschwingter.“
Dieser kleine Text entstand, als „Zündels Abgang“ auf Anhieb Erfolg hatte und Neugier auf den bis dahin gänzlich unbekannten Autor weckte. Werner zitierte ihn noch einmal, als er 2002 in die Akademie für deutsche Sprache und Dichtung in Darmstadt aufgenommen wurde, fand sie immer noch passend, die einzige Veränderung sei, dass er nicht mehr als Lehrer arbeite: Seit 1990 lebte er als Schriftsteller in Opfertshofen, Kanton Schaffhausen.
„Aber in die Anmeldeformulare der Hotels trage ich mich bis heute als ,Lehrer‘ ein, und zwar nicht aus pädagogischem Heimweh, sondern aus Scheu, eine Berufsbezeichnung in Anspruch zu nehmen, die nicht geschützt ist wie ein akademischer Titel, wohl aber nobilitiert durch die Bewundernswerten aller Zeiten.“
Markus Werner wird 1944 in Eschlikon in Thurgau geboren, nach geisteswissenschaftlichem Studium und Promotion über Max Frisch arbeitet er fünfzehn Jahre als Lehrer, so bald als möglich nicht mehr in Vollzeit. Im Schreiben, in dem er um die Verlängerung seiner Halbzeitstelle bittet (1982, das fertige Buch noch keineswegs in Sicht), heißt es: „Ich bin weder ein Faulpelz noch eine schwache Kreatur, aber ich bin ein Mensch mit einem angeborenen (und von mir selbst oft verwünschten) Hang zur Gründlichkeit.“ Es zeigt sich, dass auch dieser Brief mit jener verwünschten Gründlichkeit erstellt ist.
Weil er zwar „stockend“, dann aber auch immer wieder „schubweise“ schreibt, entstehen in den zwanzig Jahren nach „Zündels Abgang“ sechs weitere Romane: „Froschnacht“, „Die kalte Schulter“, „Bis bald“, „Festland“, „Der ägyptische Heinrich“ und schließlich, 2004, sein erfolgreichstes (später fürs Kino verfilmtes) Buch „Am Hang“. Eine seltsame Zuneigungsgeschichte unter scheinbar unähnlichen Männern, die wie von ungefähr in einer Ausnahmesituation (ein bisschen aus der Bahn auch hier, aber zuerst wirkt das auch hier nicht so bedeutsam) ins Gespräch kommen.
„Er könne sich täuschen, sagte Loos jetzt, aber an der Art, wie ich meine Brille geputzt hätte, glaube er gesehen zu haben, wie selbstverständlich ich im Leben stünde, ob seine Vermutung stimme.“ Der spinne wohl doch, denkt der jüngere, fidelere Clarin.
Die Diskussion über Angst und Unachtsamkeit, die sich daraus entwickelt, kann auf brillentragende Menschen jedoch langfristig beunruhigenden Einfluss haben. Beunruhigung dürfte ohnehin das vorrangige Gefühl sein, das sich beim Lesen auch dieses scheinbar so luftig und souverän gefügten Werner-Buches einstellt.
Der Schriftsteller erkrankte unterdessen schwer (an einem Lungenemphysem, liest man), es wurde nach und nach klar, dass „Am Hang“ sein letztes Buch war. Dass er den Abschluss seines vielfach preisgekrönten und doch ruhig am Rande des eklatanteren Literaturgeschehens bleibenden Werkes um zwölf Jahre überlebte: Auch das ist beunruhigend. Am Sonntag starb er, wie sein Verlag S. Fischer am Montagabend unter Berufung auf seine Familie mitteilte, mit 71 Jahren.