Die Legende vom hehren chinesischen Landmann

Pearl S. Bucks Roman "Die gute Erde" schuf ein Trugbild von Asien. Mit Folgen auch für die Kriegspolitik der USA.
Spät im Leben kam Pearl Sydenstricker Buck eine erstaunliche Einsicht: „Kein Farmer“, so bekannte sie 1953 auf ihrer Farm in Pennsylvania, „hat mich je über die chinesische Landwirtschaft oder über die dortigen Ernten befragt, kein Arzt sich je nach den interessanten und in der Tat unschätzbaren Erkenntnissen der chinesischen Medizin erkundigt, keine Hausfrau mich je gefragt, wie die Chinesinnen ihren Haushalt führen, und kein Junge oder Mädchen wollte jemals wissen, wie die Jugend in China lebt.“ 62 Jahre alt war sie damals, eine hoch dekorierte Schriftstellerin und schwerreiche Frau. Und doch schwante ihr, dass ihr Werk einem verhängnisvollen Missverständnis Vorschub leistete: dem Trugbild von China als asiatischem Abbild der Vereinigten Staaten, dem zu seinem Glück nur zwei Dinge fehlten – der liebe Gott und die amerikanische Kultur.
Die meisten ihrer Bücher handelten von China, wo Pearl S. Buck als Tochter eines amerikanischen Missionars aufgewachsen und später selbst im Dienst der presbyterianischen Kirche unterwegs war. Und sie konnte sich eigentlich nicht über Desinteresse ihrer Landsleute beklagen. Insbesondere ihr 1931 erschienener Roman „Die gute Erde“ war ein Verkaufserfolg, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte. Zwei Jahre in Folge führte er die Bestsellerliste von „Publishers Weekly“ an. Abermillionen verliebten sich in die süßlichen Bilder, die Pearl S. Buck vom fernen Reich der Mitte zeichnete. 1932 wurde sie dafür mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, 1938 mit dem Literaturnobelpreis.
Die Geschichte einer Bauernfamilie, die im ländlichen China den Widrigkeiten der Verhältnisse trotzt, traf einen Nerv bei vielen Amerikanern: 1931 war ein katastrophales Jahr für die Farmer, die von der Great Depression finanziell und seelisch schwer gebeutelt waren. Anhaltende Dürre und nachhaltiges Ausbeuten der Äcker hatten den Boden zum Erodieren gebracht, und gewaltige Staubstürme suchten die Menschen heim und vertrieben sie von ihrem Land. „Die gute Erde“ erzählte ihnen im Grunde ihre eigene Geschichte, nur dass sie eben in China spielte.
Pearl S. Buck, die am 26. Juni vor 125 Jahren geboren wurde, war ein Baby von fünf Monaten, als sie erstmals nach China kam, in eine, wie sie sich später erinnerte, „kleine, weiße, saubere presbyterianische Welt“, die ihre Eltern zunächst in Huai’an, später in Zhenjiang errichteten. Wie viele strenggläubige Amerikaner im späten 19. Jahrhundert war Reverend Absalom Sydenstricker von der Berufung erfüllt, das letzte große Heidenreich auf den Pfad des Glaubens und der Zivilisation zu führen.
Seine Tochter begleitete ihn schon als junges Mädchen, wenn er zu verdutzten Chinesen von Sünde, Schuld und Vergebung predigte. Nicht selten endeten seine Bemühungen in jäher Flucht vor einer aufgebrachten Menge. Dennoch schrieben Absalom und andere Missionare, später auch Pearl, aus ihren dick ummauerten, vom Mob der Ungläubigen geschützten, mit Messer, Gabel und anderen westlichen Errungenschaften ausgestatteten Domizilen wohlige Botschaften an ihre Heimatgemeinden. „Wie können wir sie retten von Schwäche? Wie können wir ihr Herz befreien von Ungeist und Unzulänglichkeit? Dies sind die Gedanken, die Tag und Nacht in uns brennen“, zitiert der amerikanische Autor und Ostasien-Experte James Bradley aus einem der Briefe, die in jenen Tagen aus dem fernen China kamen. „Sie wurden beim Sonntagsgottesdienst von der Kanzel verlesen“, schreibt Bradley in seinem Buch „The China Mirage: The Hidden History of American Desaster in China“ (Little, Brown and Company). „Und sie waren die nahezu exklusive Informationsquelle über China für Millionen von Amerikanern.“
Dass man in China stolz zurückblicken konnte auf eine Kultur und auf philosophische und religiöse Traditionen, die dem Christentum weit vorausreichten (und man von daher nicht einsah, von westlichen Barbaren „gerettet“ zu werden), interessierte weder die Missionare noch erfuhren davon ihre Brüder und Schwestern im Herrn zu Hause. Alles, was man dort hörte, waren Berichte von einer bevorstehenden Christianisierung und Amerikanisierung des Riesenreichs. Und genauso wie diese Fantasien die einzigen Nachrichten waren, die die Amerikaner damals aus China erreichten, so war „Die gute Erde“ das einzige Buch, das sie je über China lasen. Hauptattraktion des Romans war eine Figur, die so herzallerliebst war, dass sie die Herzen der Menschen fast in einem Maße eroberte wie Walt Disneys zur gleichen Zeit geschaffene Micky Maus: der „Noble Chinese Peasant“. Was diesen edlen chinesischen Landmann vor allem auszeichnete, war, dass er nahezu uramerikanische Werte verkörperte.
„Bucks Blick auf das chinesische Stadt- und Landleben hatte mehr mit der amerikanischen Mythologie gemein als mit erlebter chinesischer Wirklichkeit“, schreibt Bradley. Tatsächlich war „Die gute Erde“ das Hohelied auf das vom Gründervater Thomas Jefferson zur Essenz des Amerikanischen erklärte „plain folk“, das jeder Form von Aristokratie, Elitarismus und Ausschweifung entgegensteht.
Der Roman erzählt die Geschichte des Bauern Wang Lung und seiner ihm ergebenen Frau O-Lan, die tapfer ein kleines Stück Land bewirtschaften. Dann vernichtet ein Jahr extremer Dürre die Ernte, und sie sind gezwungen, ihr Land zu verlassen und in die Stadt zu gehen, wo sie bitterste Armut neben maßlosem Luxus erleben und sich mit entwürdigenden Arbeiten über Wasser halten. Als die beiden in den Wirren der Revolution eher unfreiwillig zu etwas Geld und Schmuck kommen, kehren sie zurück zu ihrem Land und ihrem rechtschaffenen bäuerlichen Leben.
Wang Lung bringt es zu Wohlstand, er kann seine Kinder in die Schule schicken, geplagten Mitbürgern Arbeit und Obdach bieten – und doch bleibt er stets „ein ehrlicher, arbeitsamer Mann, ein Mann mit Frau und Söhnen“. Er vergisst nie, dass er alles, was er ist und hat, seiner Arbeit zu verdanken hat. Der Ruf seines Landes, „eine Stimme, die sein ganzes Leben lang stärker als alles in ihm gewesen ist“, bewahrt ihn vor Versuchung und Verführung. Als sein zu Selbstgefälligkeit neigender Sohn das Elternhaus verlassen und in die Stadt ziehen will, ermahnt er ihn: „Mein Haus ist das und mein Land, und hätten wir das Land nicht, müssten wir alle verhungern wie die anderen. Es ist die gute Erde, die aus dir etwas Besseres gemacht hat.“
Natürlich war „Die gute Erde“ ein Roman und kein Sachbuch, geschrieben zumal im Tonfall eines biblischen Gleichnisses. Doch das Buch bewirkte, dass die Amerikaner im bis dahin so fremden und bizarren Reich der Mitte einen Seelenverwandten entdeckten. 1937 konnte man ihn dann auch auf der Kinoleinwand bewundern, nachdem Irving Thalberg den Bieterkrieg um die Filmrechte für „Die gute Erde“ gewonnen hatte. Eine Ranch in Kalifornien musste als chinesisches Ackerland herhalten, und die Hauptrollen besetzte Thalberg mit dem Österreicher Paul Muni und der Deutschen Luise Rainer. Um so mehr wuchs sich der edle chinesische Landmann zur Obsession aus.
Und zum Problem für die amerikanische Regierung. Im gleichen Jahr, in dem „Die gute Erde“ erschien, war Japan in der Mandschurei einmarschiert. Das aufstrebende, aber rohstoffarme Reich der Sonne sah sich dabei im Einklang mit den Verabredungen: 1905 hatte der damalige amerikanische Präsident Theodore Roosevelt den Japanern den Frieden im russisch-japanischen Krieg abgetrotzt – und ihnen im Gegenzug grünes Licht für die Expansion nach Groß-Ostasien gegeben. Die Unterwerfung Koreas im Jahr 1910 war nur die erste Etappe. Nun strebten die Truppen von Kaiser Hirohito von dort aus nach Norden – befeuert von amerikanischem Öl und bewaffnet mit amerikanischem Stahl.
1933 wurde Franklin Delano Roosevelt zum Präsidenten gewählt, ein entfernter Cousin Theodores – vor allem aber der Enkel eines gewissen Warren Delano, der mit dem Schmuggel von Opium nach China das Familienvermögen begründet hatte. Von daher hatte er ohnehin eine Affinität zu China, wenngleich eher merkantiler Natur. Wenn der hehre chinesische Landmann erst christianisiert und demokratisiert sein würde, so glaubten Roosevelt und seine Leute, so würde er sich auch den Gütern der westlichen Barbaren nicht länger verschließen. Nun aber hatten ihn die Japaner am Wickel, mit denen man sich auf keinen Fall anlegen wollte.
Der Präsident war in der Zwickmühle, während „Save China!“ zum Volksslogan wurde. Um so mehr, da die Japaner schon 1932 unter einem Vorwand Schanghai bombardiert hatten. 1933 wurden die Provinzen Rehe und Chahar besetzt, 1936 Teile der inneren Mongolei. Von 1937 an griff die kaiserliche Armee in einem nun auch offiziell erklärten Krieg nach Süden aus, einschließlich fürchterlicher Gräuel an der Bevölkerung, etwa dem Massaker von Nanking, als japanische Soldaten 200 000 Zivilisten und Kriegsgefangene massakrierten.
Die Hoffnung lag auf einem Mann namens Chiang Kai-shek – einem Chinesen ganz nach dem Geschmack der Amerikaner: in Armut aufgewachsen, im Kampf gegen das Joch der dekadenten chinesischen Kaiserdynastie zu Ruhm gekommen, zum Christentum konvertiert, verheiratet mit einer in den USA geschulten Verlegerstochter. Er würde den hehren chinesischen Landmann von den Invasoren befreien – und ihn den Segnungen der amerikanischen Kultur öffnen. Kein Mann war öfter auf dem Cover von „Time“ als Generalissimus Chiang Kai-shek. Die Geschichten dazu dichtete bevorzugt der Verleger Henry Luce persönlich, auch er Sohn eines China-Missionars und neben Pearl S. Buck die einflussreichste Figur der sogenannten „China-Lobby“.
Am Rande der Fotosessions für „Time“ überreichte Luce dem Generalissimus gerne die Schecks des United China Relief, mit den Spenden amerikanischer Farmer für ihre chinesischen Brüder im Geiste. Im Gremium der Organisation saßen außer Luce und Pearl S. Buck so schillernde Leute wie der Filmproduzent David O. Selznick und die First Lady Eleanor Roosevelt. Insgesamt 50 Millionen Dollar sammelten sie für den edlen chinesischen Landmann, der landesweit auf Plakaten prangte – ein Filmstill aus „Die gute Erde“ diente als Vorlage.
Doch die Spenden versickerten ebenso wie die Unsummen, welche die amerikanische Regierung in den Generalissimus steckte – von bis zu zwei Milliarden Dollar gehen Historiker heute aus. Chiang Kai-shek, ein waschechter Faschist, der sich in China mit Beratern aus Deutschland und Italien umgab, hatte nicht die Absicht, Japan zu bekämpfen. Als viel größere Gefahr für seine Macht sah er seinen Landsmann Mao Zedong und dessen Bauernheer. Die Geschichte wäre heute eine andere, wenn die USA diesen, den wahren chinesischen Landmann, ernst genommen hätten. Mehrmals wandte sich Mao an Roosevelt und bat um Hilfe, im Kampf gegen Chiang, die Japaner und beim folgenden Wiederaufbau Chinas. Er blieb ungehört – und sollte sich seine Hilfe stattdessen woanders holen. Dafür pries Pearl S. Buck noch 1943 Chiang-Kai-shek als „zentrale Figur für Chinas Einheit und Kampf“. Da war es freilich längst zu spät.
Denn Franklin Roosevelt, der 1940 eine dritte Amtszeit mit dem Versprechen gewonnen hatte, dass er „keine Jungen in ferne Kriege schicken“ würde, verhängte im Juli 1941 auf Druck der China-Lobby schließlich ein Öl-Embargo gegen Japan. Die Antwort war jedoch mitnichten der Rückzug aus China – sondern der Entschluss, sich die lebensnotwendigen Energiereserven dann eben aus den britischen und holländischen Besitzungen in Asien zu holen, die dank des Krieges in Europa kaum bewehrt waren. Dafür musste man sich jedoch die Amerikaner vom Hals halten – im Dezember versenkten japanische Flieger prophylaktisch die in Pearl Harbour, Hawaii, vor Anker liegende Pazifikflotte der USA.
So verlor Amerika seine Jungen doch an den Krieg. Und China, das man retten wollte, an den Kommunismus. Und weil sich „Losing China“ traumatisch ins amerikanische Bewusstsein einbrannte, sollte zumindest der Rest Südostasiens aus der Dunkelheit geführt werden. Noch in den 50er Jahren klagte Pearl S. Buck über die „unerträglich gewordene Bürde Frankreichs in Indochina“ – ganz so, als müsste dringend jemand zu Hilfe kommen, um die Menschen dort auf den rechten Weg zu bringen. Und so verloren die Amerikaner wieder Jungen, erst in Korea, dann in Vietnam, die Menschen dort sowieso, und der Katzenjammer währt bis heute.
Pearl S. Buck starb 1973 einsam und von der Welt enttäuscht in Danby, Vermont. In ihren Memoiren schrieb sie: „Wir sind es nicht, die in Asien gewonnen haben, obwohl das möglich gewesen wäre, wenn wir die Natur der dortigen Völker verstanden hätten.“ Ob sie sich dabei selbst einschloss, ließ sie offen.