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Das Land meiner Seele

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Von: Nadja Erb

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Autor Dmitrij Belkin.
Autor Dmitrij Belkin. © imago stock&people

Dmitrij Belkin erzählt in „Germanija“ vom jahrzehntelangen Ankommen in Deutschland und der Suche nach der eigenen Identität.

Was nimmt ein Anfang Zwanzigjähriger mit, wenn er sich aufmacht, sein Glück und sich selbst im fernen Deutschland zu suchen? Geld, Fotos der Liebsten, warme Socken? Dmitrij Belkin hat sechs Bücher im Gepäck, Gedichte von Joseph Brodsky, eine Schellingausgabe auf Russisch und Heideggers „Holzwege“.

Er trägt sie mit sich in karierten chinesischen Plastiktaschen, deren dünne Henkel sich tief in seine Handflächen schneiden. „Mit solchen Taschen reiste das neue deutsche Judentum, als es noch das alte sowjetische war“, schreibt der Historiker und Philosoph. Wie aus ihm, dem sowjetischen Sohn eines jüdischen Vaters, dem Dnepropetrowsker Jungakademiker, ein deutscher Jude, ein Europäer mit ukrainischen Wurzeln wurde, erzählt er in seinem Buch „Germanija“.

Es ist die Geschichte eines jahrzehntelangen Ankommens, einer Suche nach der eigenen Identität, die auch und vor allem eine geistige Sinnsuche ist. Denn Belkin ist einer von rund 250 000 sogenannten Kontingentflüchtlingen aus jüdischen Familien, die Anfang der neunziger Jahre aus der zerfallenen Sowjetunion nach Deutschland auswandern. Dabei spielt das Jüdische für ihn zunächst gar keine Rolle. Er will die „riesige Welt der europäischen Kultur“ erkunden, in sich aufsaugen und dann zurück in sein Dnepropetrowsk, sein Dostojewski-Russland bringen. „Deutschwerdung“, wie Belkin sie nennt, ist nicht der Plan. Er will mehr.

Doch zunächst bedeutet das, sich durch die Wohnheime und Wartezimmer der schwäbischen Provinzbürokratie zu wursteln. Er lernt, wie apathisch die erzwungene Langeweile macht und dass es Ausländer erster Klasse (Amerikaner), zweiter (Russen) und dritter Klasse (Araber) gibt sowie die Ausländer im eigenen Land, die DDR-Bürger. Belkins Ritt durch die Neunziger aus der Massenunterkunft an die Uni, aus der Provinz nach Tübingen und dann nach Frankfurt, liest sich in vielem wie eine Blaupause des typischen Migrantenschicksals. Die karierten Plastiktaschen sind ebenso sein ständiger Begleiter wie das Gefühl, sich in vertrauter Fremde zu bewegen. Noch für das Jahr 2002, Belkin ist seit fast zehn Jahren in Germanija, seine Familie lebt längst bei ihm, hält er fest: „Deutschland war das Land meines Studiums, der Erweiterung meiner Lebensperspektiven, das Land der seltenen russischen Bücher, der niedlichen Berge und des fehlenden Winters. Aber nicht das Land meiner Seele.“

Belkin fremdelt mit diesem Deutschland, das ihn so bereitwillig aufgenommen hat, doch er tut das ohne Selbstmitleid, dafür mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Zum Beispiel, wenn er beschreibt, wie der Neuankömmling sich über die vielen Chanukka-Kerzen in den deutschen Fenstern freut und sie als Beweis für weit verbreitetes jüdisches Leben in Germanija nimmt – bis er erfährt, dass es Adventslichter sind.

Gegen das Fremdeln hilft kein deutscher Pass, für den der Historiker Belkin bereitwillig den ukrainischen hergibt. Wenn schon, dann richtig. „Ich empfand diesen Raum zwischen jüdisch und christlich, religiös und säkular, sowjetisch, russisch, ukrainisch und deutsch als irgendwie unbefriedigend“, erinnert sich Belkin. „Ich fühlte mich als jemand, der Welt verbindet, aber am Ende durchbricht, weil die Basis fehlt, die einen hält.“

Halt im Judentum, aber in welchem Judentum

Halt soll also das deutsche Judentum geben, aber welches? Belkins Suche nach einer Gemeinde, einem Kreis, in dem er, der sowjetische Sohn eines Juden, seine Frau, die sowjetische Nichtjüdin, und ihr kleiner Sohn zu Hause sein können, ist eine Begegnung mit den unterschiedlichsten jüdischen Strömungen, vom „Polakenhaften“ der Frankfurter Juden über orthodoxe und liberale Zirkel bis zum Lubawitscher Chassiden, der Belkin in Ulm rät, sich endlich für eine Religion zu entscheiden.

Man kann vermuten, dass die Frage „Wie hart lebt es sich als Jude in Deutschland – ausgerechnet dort?“, die Belkin in den USA – er lebt dort einige Zeit mit einem Forschungsstipendium – immer wieder gestellt wird, zum Katalysator seiner Sinnsuche wurde. Belkin schreibt von antisemitischen Vorwürfen und Angriffen, er erwähnt Verletzungen durch Möllemann und Fassbinder, doch hier bleibt er, der sonst so detailliert seiner persönlichen Ängste und Träume, seine Ehekrise und die Beschneidung seines Sohnes schildert, sehr im Allgemeinen. Als sei die Angst vor Antisemitismus etwas, das der deutsche Jude Belkin, der in Berlin endlich zu Hause ist, nicht an sich heran lassen möchte.

Dmitrij Belkin: Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Campus, Frankfurt a. M. 2016. 202 S., 19,95 Euro.

Der Autor stellt sein Buch vor am Donnerstag, 6. Oktober, 19 Uhr auf dem Pop Up Boat des Jüdischen Museums Frankfurt.

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