Es ist eine Falle. Das Wort zieht unweigerlich halb-theologische Debatten nach sich, weil man mit „das Böse“ eigentlich den Teufel meint. Ich glaube nicht an den Teufel. Wir haben die Tendenz, das Übernatürliche ins Spiel zu bringen, wenn uns die Vorstellung, wozu Menschen fähig sind, zu sehr erschreckt.
Ihr neuer Roman spielt 1942 und 1943 in einem deutschen Konzentrationslager, zu einer Zeit und an einem Ort also, die wie nur wenige andere sonst in der jüngeren Geschichte des Westens mit „dem Bösen“ assoziiert werden.
Ich glaube, es war Gregor Strasser, einer von Hitlers frühen Genossen, der lange vor 1933 einmal gefragt wurde, was denn vom Nationalsozialismus zu erwarten sei. Seine Antwort lautete: Der Nationalsozialismus wird das Gegenteil von allem sein, das wir heute kennen. Die Umkehrung aller Werte – diese negative Definition scheint mir das Wesen jener Epoche sehr viel besser zu beschreiben als ein vager Begriff wie „das Böse“.
Der Holocaust-Überlebende und Autor Elie Wiesel hat einmal gesagt, ein Roman über Auschwitz sei entweder kein Roman oder handle nicht von Auschwitz. „Interessengebiet“ ist zweifellos ein Roman. Wovon handelt er?
Lassen Sie mich zunächst klarstellen, dass ich mich nicht mit der Absicht hingesetzt habe, einen Roman über den Holocaust oder Auschwitz zu schreiben. „Interessengebiet“ begann wie alle meine Bücher mit einer Eingebung: Ein Mann begegnet einer Frau in einer scheinbar harmlosen Umgebung und verliebt sich auf den ersten Blick in sie. Dann geraten drei Galgen ins Bild, und der Ort entpuppt sich als einer, der schon den Gedanken an Liebe eigentlich unmöglich macht.
Mit dieser Szene eröffnen Sie Ihren Roman.
Das war mein Ausgangspunkt. Elie Wiesels Bemerkung ist nicht dumm. Holocaust-Romane sind häufig tatsächlich keine. Viele gleichen eher Meditationen über den Holocaust oder eben Auschwitz. Den meisten fehlt es an erzählerischer Disziplin. Ich wollte etwas schreiben, das über einen Spannungsbogen und wiederkehrende Elemente verfügt, etwas, das eine thematische Einheit bildet und meiner Vorstellung von einem Roman näher kommt.
Aber warum jetzt, warum noch einmal? 1991 veröffentlichten Sie „Time’s Arrow“ („Pfeil der Zeit“), darin erzählten Sie das Leben eines Nazi-Arztes rückwärts. Verglichen mit jenem Roman wirkt „Interessengebiet“ geradezu enttäuschend konventionell.
Dieses Mal sagte ich mir: Nichts Radikales, das hier wird realistisch.
Realistisch?
Sie meinen: Wie kann ich es als Arier wagen, überzeugend für die Opfer der Nazis zu sprechen?
Allein der Versuch empfinden manche als skandalös.
Vor zwanzig Jahren hat sich in meinem Leben etwas Entscheidendes verändert: Ich habe eine Frau geheiratet, die mütterlicherseits aus einer Familie ungarischer Juden stammt. Viele von ihnen sind im Holocaust umgekommen. Unsere beiden Töchter sind zu einem Viertel jüdisch. Ich habe darüber erst vor kurzem richtig nachgedacht, aber ich glaube, dass dieser Umstand mir den Mut verlieh, anders als in „Time’s Arrow“ nun zum ersten Mal auch über die Opfer des Nationalsozialismus zu schreiben.
In Ihren Werken tauchen drei Motive immer wieder auf: Sex, Scheiße und der Tod. Von all dem gab es in Auschwitz im Übermaß. Bot sich Ihnen der Ort nicht auch deshalb als Romanschauplatz an?
Sie haben insofern Recht, als Auschwitz Menschen auf ihren Urzustand reduzierte.
Eine Figur in Ihrem Roman beschreibt Auschwitz als „magischen Spiegel“...
...der nicht das eigene Spiegelbild reflektiert, sondern die Seele, so wie man wirklich ist. Die meisten Menschen schöpfen im Lauf ihres Lebens lediglich zehn Prozent ihres Potenzials aus. Das ist gut so. Es gibt keinen Grund, weshalb man in einer friedlichen Gesellschaft herausfinden müsste, wozu einen die restlichen neunzig Prozent befähigen. Das geschieht nur unter extremen Umständen wie eben jenen in Auschwitz. Überlebende haben immer wieder erzählt, wie sehr sie von ihrer eigenen Widerstandskraft überrascht waren. Und die Täter waren sicher über ihren Appetit auf Grausamkeit überrascht. Jeder konnte im Dritten Reich zum Monster werden.
In Ihrem Nachwort zu „Interessengebiet“ zitieren Sie wiederholt Primo Levi. In seinem autobiografischen Bericht „Ist das ein Mensch?“ ging dieser Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende unter anderem der Frage nach, was einen Menschen zum Menschen macht. Haben Sie beim Schreiben ihres Romans eine Antwort darauf gefunden?
Ich glaube, es ist die Fähigkeit, nicht zu verzweifeln, die uns zu Menschen macht.
Hoffnung?
Das ist nicht ganz dasselbe. Die Hoffnung ist ein Resultat von Verzweiflung. Nein, nicht zu verzweifeln, selbst wenn es keine Hoffnung gibt – das ist wahre Humanität. Primo Levi hat auch geschrieben, dass Anständigkeit einem zu überleben half. Dass die Skrupellosen untergingen. Es kamen also nicht diejenigen davon, die anderen ihre Brotration stahlen, sondern diejenigen, die ihr Brot mit anderen teilten.
Das könnte einem den Glauben an das Gute im Menschen fast zurückgeben.
Könnte es, ja. Aber der Nationalsozialismus offenbarte daneben ja genug Schockierendes. Wie leicht sich die Welt in eine verwandeln lässt, in der Grausamkeit belohnt und man fürs Rauben, Vergewaltigen und Töten bezahlt wird. Was mich immer wieder erstaunt, sind die schiere Vulgarität des Nationalsozialismus und die Absurdität des ganzen Unternehmens. Viele Aspekte des Dritten Reiches waren schlicht lächerlich, Slapstick-, Sahnetorte-ins-Gesicht-komisch, clownesk. Der größte Witz war natürlich Hitler selber, dieser österreichische Penner und Analphabet, dem nie ein wahres Wort über die Lippen kam und dem es gelang, sein Scheitern dem gebildetsten Volk der Erde als Stärke zu verkaufen. All dem ist nur mit Satire beizukommen.
Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz: Der Witz ist das Epigramm auf den Tod des Gefühls.
Ich hatte beim Schreiben dieses Romans jede Menge Gefühle. Ich würde gerne sagen, es sei furchtbar gewesen. Aber das war es nicht. Ich befand mich oft in einer Art Trance, aus der ich plötzlich hochschreckte. Zum Beispiel als es darum ging, wie der Lagerkommandant sein heimliches Freudenmädchen behandelt. Was ich mir ausgedacht hatte, war schon ziemlich schlimm. Aber ich ertappte mich dabei, wie ich mir etwas noch Schlimmeres vorzustellen versuchte. In dem Moment zuckte ich dann doch zusammen und fragte mich, in welchem übel riechenden Sumpf meines Unterbewusstseins ich da wohl gelandet war.
Heißt das, Ihr fiktives Auschwitz hat Ihnen ebenfalls einen Spiegel vorgehalten?
Ja. Und ich verzichte gerne auf eine nähere Bekanntschaft mit der Seite meines Ichs, die ich darin erblickte. Ein französischer Aphoristiker sagte einmal, der Barbarismus sei etwas, dem der Mensch nie entwachse. Man werde auf Schritt und Tritt davon begleitet. Schauen Sie nach Irak und Syrien. Was ist der Unterschied zwischen dem, was sich dort zurzeit abspielt, und zügellosem Hitlerismus?
Da gibt es doch einige Unterschiede, angefangen beim Vokabular.
Stimmt. Der IS kämpft nicht um „Lebensraum“, sondern um ein neues „Kalifat“. Und anstelle des Nihilismus wuchert dort die Religion. Wie der Nationalsozialismus hat der IS aber den Tod auf seiner Seite.
Wie meinen Sie das?
Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem Bösen. Ich glaube wie gesagt nicht an den Teufel. Aber ich glaube, dass der Tod eine Eigendynamik entwickeln kann. Je schneller sich er sich verbreitet, desto mehr verliert Leben an Wert und desto größer wird die kindische Freude daran, alles kaputt zu machen, einschließlich sich selber. Man braucht bloß an Selbstmordattentäter zu denken, um die Kraft dieser negativen Energien zu erkennen. Der Tod lacht immer zuletzt.
Hat Sie die Arbeit an „Interessengebiet“ vermehrt an Ihre eigene Sterblichkeit denken lassen?
Der Tod ist auf jeden Fall stärker ins Zentrum gerückt. Im Augenblick schreibe ich einen autobiografischen Roman über Menschen, die ich kannte und die gestorben sind. Das Sterben ist eine ungeheuer anstrengende Angelegenheit. Primo Levi berichtete von einem Mann, der kurz vor der Befreiung von Auschwitz starb. Dieser Mann, ein Deutscher, lag auf Pritsche und flüsterte achtzehn Stunden lang unablässig: „Jawoll, jawoll, jawoll.“ Ja, komm endlich und hol mich, ich bin bereit.
Würden Sie den Tod so willkommen heißen?
Karl Marx‘ letzte Worte lauteten: „Hinaus! Letzte Worte sind für Narren, die noch nicht genug gesagt haben!“ Daran werde ich zu denken versuchen und zum ersten und letzten Mal in den Leben den Mund halten.
Interview: Sascha Verna