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Das Labor ist die Welt

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Der Forscher Alexander von Humboldt wird durch eine luxuriöse Neuedition gefeiert.
Der Forscher Alexander von Humboldt wird durch eine luxuriöse Neuedition gefeiert. © Archiv

Alexander von Humboldt in der Anderen BibliothekDer Forscher Alexander von Humboldt wird durch eine luxuriöse Neuedition gefeiert.

Von MAGNUS SCHLETTE

Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno feiern den zwanzigsten Geburtstag der Anderen Bibliothek. Zu diesem Anlass beglücken sie uns in dieser Woche mit drei Ausgaben aus dem Oeuvre Alexander von Humboldts. Neben der deutschsprachigen Erstveröffentlichung des Tafelwerks Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas und einer Wiederauflage der Ansichten der Natur kommt auch der Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung gut 140 Jahre nach der Erstausgabe wieder in die Buchhandlungen.

Das mediale Feuerwerk, das Enzensberger und Greno dabei für einen in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts verstorbenen Naturkundler und ethnologisch interessierten Menschenfreund abbrennen, erweckt den Anschein, als wollten sie in ein paar Tagen wettmachen, was die deutsche Geisteskultur an Aufmerksamkeit für die Naturwissenschaften bisher hat vermissen lassen. Zwar vertrat der Kosmos in den Bibliotheken des Bürgertums im späten 19. Jahrhundert die Naturwissenschaften so allgegenwärtig wie Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums die antike Mythologie. Aber Humboldt war weder Dichter noch Denker, sondern "nur" denkender und ästhetisch inspirierter Forscher; so blieb er bis heute stets im Schatten der Goethes, Schillers, Hegels, die zu seinen Zeitgenossen zählen.

Deutschlands große Geister zogen ungern mit Messinstrumenten durch die Landschaft und scheuten die weite, zumindest die ganz weite Welt, in der Humboldt sich heimisch fühlte. Johann Gottfried Herder, der das Ineinander von Natur- und Menschheitsgeschichte betonte und in seinen Gymnasialreden den Schülern die Geographie näher ans Herz legte als die lateinischen Stilübungen, lässt zwar verwandte Intuitionen erkennen. Aber ihm reichte schon der Passagierschein für einen Segler von Riga nach Frankreich, um sich in die Rolle des künftigen Doyen aller vereinigten Erfahrungswissenschaften hineinzuphantasieren. Im Journal meiner Reise 1769 hat Herder seine Inspiration während der Überfahrt - "unter einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend" - festgehalten: " Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten usw. Universalgeschichte der Bildung der Welt!", exklamiert er in seinem Reisetagebuch.

Der Realtypus des Forschers

Was bei Herder auf ein Undsoweiter zusammenschnurrt, wird Humboldt tatsächlich in tausenden und abertausenden von Kilometern durch Süd- und Mittelamerika erlaufen und erschauen und dann mit der Geduld und Genauigkeit von zwanzig Arbeitsjahren in dreißig Bänden auseinanderlegen. Auf Französisch, denn sein Hauptwerk Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents schreibt und veröffentlicht Humboldt in Paris - Berlin, seine deutsche Heimat, war ihm längst zu miefig.

Humboldts Reiseerlebnisse wecken nicht weniger Abenteuerlust als die Romane von Alexandre Dumas oder Robert Louis Stevenson, denn in ihnen begegnet uns der Realtypus des Forschers, den Kinder meinen, wenn sie ihn als Berufswunsch neben Matrose, Entdecker oder Astronaut angeben. Forschung zielt auf Erklärung, aber sie setzt in Humboldts Zeit noch durchgängig die körperliche Suche nach dem Unbekannten voraus. Das Labor ist die Welt - genau diese Botschaft drückt Eduard Enders Gemälde Urwaldlaboratorium am Orinoco aus, das er nach Skizzen Humboldts gemalt hat und das den Wissenschaftler und seinen Reisegefährten, den französischen Aimé Botaniker Bonpland, im Dickicht des heutigen Venezuela zeigt.

Der Betrachter sieht Humboldt, wie er im Eingang einer Hütte mit dem Rücken an einem stämmigen Tisch sitzt und in glücklicher Erschöpfung sinniert, während er eine Karte auf dem rechten Knie hält und den linken Arm auf einen Stapel Aufzeichnungen und Berechnungen stützt. Auf dem Tisch und um die beiden Wissenschaftler herum ihre Funde, Utensilien und Instrumente: Chronometer, Tierbälger (darunter ein sonnengelb gefiederter Vogel), exotische Blüten, ein stattlicher Sextant, ein Mikroskop und anderes mehr - Zeugnisse eines Universalgelehrten, der zugleich klimatologische, botanische, zoologische, astronomische, kartographische und geologische Studien treibt. Im Hintergrund Palmen, Wilde und Berge in blauem Dunst.

Der Philosoph Manfred Sommer hat die naturgeschichtlichen Sammlungen des 19. Jahrhunderts "Orte der Sinnlichkeit" genannt, welche die Lust an der Anschauung stillen, aber auch erregen und kultivieren können. Der Sammler ist ein Ästhet und der Fund in seiner sinnlichen Präsenz immer eine Art Epiphanie. Auf Enders' Gemälde sehen wir eine solche Sammlung im Entstehen begriffen, und Humboldts Gesichtsausdruck spiegelt das Glück der Anschauung. Jeder echte Naturforscher, sagt uns das Bild, ist auch Entdecker und Sammler, und der ersehnte Fund, ob Mineral, Pflanze oder Tier, eine Preziose, die der Mutige für die Überwindung von Gefahr und Widrigkeiten auf dem Weg zum Ziel erhält.

Mit dem Furor des Messens

Unter den deutschen Geistesgrößen seiner Zeit war vor allem Goethe dem um zwanzig Jahre jüngeren Humboldt zugetan. Beide teilten den Primat der Empirie vor der Spekulation, den beobachtenden und ästhetisch inspirierten Zugang zur Natur. Wiederholt und verbindlich hat Goethe seiner Bewunderung Worte verliehen. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Naturzugang der beiden höchst unterschiedlich war. "Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen", schreibt Goethe an Humboldt am 18. Juni 1795, "so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen." Goethe ist von Humboldts Streben nach einer einheitlichen Weltbeschreibung beeindruckt, die sich im Ausgang vom Einzelnen durch Maß und Zahl soll erreichen lassen, aber seine Sache ist das nicht. Alexanders Bruder Wilhelm gesteht er 1831 brieflich, dass "darnach zu operieren meinem Cerebralsystem ganz unmöglich wird".

Schiller ist schonungsloser. "Es ist der nackte, schneidende Verstand der die Natur schaamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit die ich nicht begreife", bellt er in Richtung Humboldts. Erstaunlich ist in der Tat der Furor des Messens, mit dem Humboldt auf die Welt losging. Vor der Abreise nach Amerika von La Coruna aus übt er sich, da er nun schon einmal dort ist, in der astronomischen Ortsbestimmung spanischer Städte. Auf den Schiffspassagen während seiner Amerikareise fällt er dem seefahrenden Personal damit auf die Nerven, dass er den Sextanten regelmäßig ein klein wenig genauer handhabt als die professionellen Nautiker. Nebenbei berechnet er die Meeresströmungen und beobachtet die Wirkung galvanischer Elektrizität auf Quallen. Gewitter veranlassen ihn reflexartig zur Messung der Elektrizität in der Luft mit einem Voltaschen Elektrometer.

Es sind die Messungsergebnisse und ihre Auswertungen, die in Humboldts Reisebeschreibungen durch den Fußnotenapparat mäandern und oftmals den Haupttext zu verschlingen drohen. Hartmut Böhme hat auf den Widerstreit im Wesen Humboldts hingewiesen zwischen dem Habitus des wissenschaftlichen "Messungs-Reisenden" (Wolf Lepenies), der nach exakten Ergebnissen jagt, und dem des meditierenden Naturästheten, der das Disparate in einer qualitativen Totalität zusammenschauen will. Dieser Widerstreit prägt Humboldts Werke und spiegelt letztlich die Übergangsphase seiner Zeit von naturphilosophisch universalgelehrter Anschauung zu naturwissenschaftlich spezialisierter Forschung.

"Was ich physische Weltbeschreibung nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde), ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen", erläutert Humboldt die Idee zu seinem Kosmos. Dieser Satz ist der Schlüssel zu dem "Humboldt-Projekt", mit dem Enzensberger und Greno mehr vorhaben als "nur" drei weitere Titel in der Anderen Bibliothek. Die Fachdisziplinen, die in Humboldts Oeuvre vertreten sind und sich erst nach seiner Zeit ausdifferenziert haben, werden von dieser Veröffentlichung nicht mehr profitieren. Doch während uns die Spezialisierung und Versachlichung der wissenschaftlichen Wissensproduktion die Natur als Lebensraum nicht näher bringt, prägt die Prämisse der Natur als Lebensraum Humboldts Haltung. Nichts drückt das deutlicher aus als seine Verschränkung natur- und völkerkundlicher Studien - die Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas geben davon ein literarisch beredtes und in der vorliegenden Reproduktion von Humboldts Tafelbildern ein sinnlich betörendes Zeugnis.

Die Entwicklung der Kulturen besteht wesentlich aus dem entdeckenden Sinnbezug des Menschen auf die Natur als seinem Lebensraum. In diesem Sinnbezug wurzelt auch die Naturforschung der abendländischen Kultur. Daher ist es folgerichtig, dass Humboldt im Kosmos auch deren Geschichte, von der ersten Schifffahrt in der Mittelmeerregion über die Feldzüge Alexanders des Großen, das Mittelalter und die großen ozeanischen Entdeckungen bis in seine Zeit, mit einbezieht. Das Faszinosum Humboldt besteht nicht zuletzt in dem Versuch, den sich gerade entwickelnden modernen wissenschaftlichen Naturzugang noch in das hermeneutisch-ästhetische Naturverhältnis zu integrieren.

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