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Die Kunst des Unmöglichen

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Großer Außenseiter: Dem schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf zum Abschluss seiner Werkausgabe

Von SIBYLLE CRAMER

"Geboren wurde ich in Stockholm, Schweden, im September 1907 im Zeichen der Jungfrau, an einem Sonntag und mit Glückshaube...", beginnt Gunnar Ekelöf eine seiner wenigen autobiographischen Auskünfte in typischer Manier. Gemeint ist nicht Faktisches. Die Umstände seiner Geburt, seines Herkommens, seiner Kindheit überspringt er. Tatsächlich konnte der Stockholmer Bankierssohn bis zum Börsenkrach im Jahre 1930 vom Vermögen seiner Familie leben. Aber er wuchs zwischen einer gefühlskalten, später von ihm als "Durchgangsstation" bezeichneten Mutter und dem an Paralyse leidenden umnachteten Vater auf. Das prägte ihn zum lebenslänglichen Außenseiter. Als "Glückshaube" bezeichnet er die Bedeutung, die sein Geburtsstern für sein geistig-spirituelles Leben gewann. Später wird er von der vertrauten Vision einer Jungfrau sprechen, "wolkig unbestimmt und dennoch von fester Kontur und Gestalt, über dem Meer im Sturm", die als "Nichtgebärende, Sohnlose" für ihn die "quinta essentia eines Wesens" ist, "da es jenseits unserer Sinne und Begriffe liegt. Durch letztere ist die Welt endlich". In zwei "Erklärungen für die Jungfrau" schreibt er seine durch sie gewonnenen Einsichten nieder. Sie bestehen in der prinzipiellen Elternlosigkeit des Menschen und seiner Befähigung zum Selbstmord, der Nähe und Lizenz für den Sprung ins Nichts.

Vollzogen hat er ihn nicht. Ekelöf war zeit seines Lebens auf der Suche nach Aussöhnung mit dem Leben, nach unausgeschöpften Möglichkeiten der Überschreitung des subjektiv eingeschränkten menschlichen Wahrnehmens und Erkennens, im Aufbruch zu unentdeckten Zentren wahren pantheistischen, surrealen, mystischen Reichtums, auf dem inneren Weg zu Erfahrungsbereichen und Bewusstseinsgegenden des Traums, der Vision, Mystik, des Mythos, der Metaphysik.

Die Entbindung des dichterischen Worts aus den Ordnungen des Wirklichen und Wissens, seine Emanzipation von dem normativen Wirklichkeitsbegriff der Zeit, die Befreiung der poetischen Rede ist der gemeinsame Nenner seines zerklüfteten Werks, das breit aufgefächert ist zwischen seinen neuromantischen Anfängen, dem surrealistischen Experiment der frühen dreißiger Jahre, der von Schwitters inspirierten Lautpoesie, dem Rückgriff auf den Symbolismus und in der zuletzt erschienenen Akrit-Trilogie dem spätantiken Mythos und der orientalischen Mystik. Sein 1961 in dem Poem "Die Nacht von Otocac" abgelegtes Bekenntnis zur "Kunst des Unmöglichen" gilt für das neuromantische und surrealistische Frühwerk ebenso wie seine späte west-östliche Weltbildsynthese.

Ich-Überschreitung

Seine frühen neuromantischen Gedichte, darunter "kosmischer schlafwandler" träumen den pantheistischen Traum vom Verschmelzen mit der "unendlichen mutter" Natur. Den 1932 erschienenen Band Spät auf Erden bezeichnete er später als "Selbstmordbuch", das unter dem Einfluss von Stravinskijs Sacre du Printemps zu einer Zeit entstand, als er in Paris mit einem Revolver in der Tasche herumlief. "Ich sage: man muß Seher sein, man muß sich zum Seher machen", das Rimbaud-Motto stellt er 1934 den Gedichten des Bandes Dedikation/ Widmung voran. Die späte Akrit-Trilogie ist ein Werk der Ich-Überschreitung, das die Begriffspole Sehen, Blindheit und Unsichtbarkeit spiralig umkreist und aus der mystischen Identifikation von Mensch und Gott über das Verbindungsglied der Unio mystica ein Modell gewinnt, das die göttliche Rolle auf das Subjekt überträgt. Eine moderne Heiligung des Subjekts, die wie die Kunstreligion Stefan Georges an die religiösen Ursprünge der Poesie anknüpft.

In seinem 1941 niedergeschriebenen kurzen Lebensabriss "Der Weg eines Außenseiters" findet sich jene Schlüsselszene mit dem Vater, in der sich autobiographische und poetologische Aussagen verschränken. Ekelöf schildert den geistesverwirrten Mann als Welt- und Wirklichkeitsflüchter, der im Exil seines Wahnsinns mit menschenfernen Stimmen in fremden Zungen redete - ein Geistesverwandter des Dichters, lebenslangen Außenseiters und "Landstreichers im Geiste", der als Schüler das Morgengebet verweigert, Europa und das Christentum verabscheut, von Indien träumt und sich in der Königlichen Bibliothek den Kopf mit arabischer Kunst, Geschichte und Religion vollstopft. Nach dem Abitur studiert er Orientalistik in London, dann in Uppsala, entdeckt in Paris die Surrealisten, liest früh die Oden des mittelalterlichen Sufimystikers Ibn Al-'Arabi und vertieft sich in die Weisheitslehren Lao-tses.

Aus Schweden ist er immer wieder vergeblich geflüchtet, reist an die nördlichen Ränder der europäischen Welt und nach Frankreich, Italien, Griechenland, macht 1938 eine Wallfahrtreise zum Sterbeort der großen Finnlandschwedin Edith Södergran, wird als Übersetzer und Verleger (und Briefschreiber) zum Vermittler zwischen den Zentren der europäischen Moderne und der skandinavischen Welt (zu einer Zeit, als die deutsche Poesie verjagt worden war, sich verkroch oder die großgermanische Wiedergeburt mitfeierte) und errichtet in den sechziger Jahren in einem großartigen Akt der Orientalisierung der Moderne jenem Kurdenfürsten Emgión ein Denkmal, der im 11. Jahrhundert in Byzanz als Manichäer gefangen genommen und geblendet wurde. Der letzte Band der Akrit-Trilogie ist 1967 erschienen, ein Jahr vor Gunnar Ekelöfs Tod.

Zunächst haben die Übersetzungen von Nelly Sachs ihn bei uns bekannt gemacht. Nun folgt in einer Riesenanstrengung des Münsteraner Kleinheinrich Verlags und des Übersetzers Klaus-Jürgen Liedtke (zum Teil unter Mitwirkung Manfred Peter Heins) die Werkausgabe.

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