„Kulturgeschichte der jiddischen Literatur“: Auf ihre Weise frei wie keine andere Sprache

Das letzte Wort ist nicht gesprochen: Susanne Klingenstein legt ihre faszinierende „Kulturgeschichte der jiddischen Literatur“ vor.
Wie keine andere Weltliteratur ist die jiddische Literatur überfrachtet von religiösen und politischen Ideologien und Hoffnungen, von Erwartungen und Vorurteilen“, schreibt Susanne Klingenstein. Das fängt schon damit an, dass dem Jiddischen über eine lange Zeit die Literaturfähigkeit abgesprochen worden ist. Auch von den Juden selbst. Denn Bibel und Talmud wurden auf Hebräisch oder Aramäisch überliefert. Hingegen wurden dem Jiddischen „eigene Wichtigkeit und religiöses Potential“ abgesprochen. Und bei Nicht-Juden wirkte sich „die lange Geschichte der negativen Bewertung“ des Judentums aus. Jiddisch wurde als „verdorbenes“ Deutsch abgetan. Diese Einschätzung änderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Man muss nicht gelehrt sein, um Susanne Klingensteins „Kulturgeschichte der jiddischen Literatur“ mit Freude zu lesen. Auch verliert niemand den Faden, wer des Jiddischen nicht mächtig ist. Es genügt, neugierig zu sein auf die Anfänge und die erste Blüte, auf die Bedingungen der jiddischen Literatur und auf die, die sie geschrieben haben. Für alles Übrige sorgt die deutsche Literaturwissenschaftlerin an der Harvard University mit ihrer erkenntnissatten Darstellung, die sie unter einem schönen Titel veröffentlicht: „Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein“.
Jiddisch entstand zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert mutmaßlich im mitteldeutschen Sprachraum. Seit dem 16. Jahrhundert wurde es in Osteuropa zur jüdischen Alltagssprache – im Jiddischland von Riga bis Odessa. 1908 kam es zur offiziellen Proklamation als „Nationalsprache der Juden“. Allerdings fehlte ihr, wie Susanne Klingenstein hervorhebt, der Rückhalt eines Nationalstaates. Der hätte für die Standardisierung von Schreibung, Grammatik und Wortschatz sorgen können. Stattdessen war das Jiddische „als Sprache auf ganz eigene Weise frei“.
Was wohl auffälliger als in jeder anderen Literatursprache ist: Für Jüdinnen und Juden, die weit verstreut lebten, waren Bücher ein einigendes Band. Sie fanden darin ihre Sprache, ihre gemeinsamen Geschichten, ihre religiösen Gesetze, kurzum: ihre Identität.
Als „Silbernes Zeitalter“ der jiddischen Literatur werden die drei Jahrzehnte nach 1945 bezeichnet, nach dem Rassenwahn der Nationalsozialisten, nach dem Holocaust. „Die Überlebenden schrieben wie im Rausch“, erklärt Susanne Klingenstein. Allerdings wurden diese Werke außerhalb der jüdischen Gemeinden kaum rezipiert. Ein Akt der Verdrängung: Sich der jiddischen Literatur auszusetzen, hätte „zu intimsten Begegnungen mit den millionenfachen Morden geführt“. Die nicht-jüdische Leserschaft setzt auf Schmerzvermeidung. Eine Tragödie eigener Art.
Das Buch:
Susanne klingenstein: Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 634 S., 50 Euro.
Im ersten Band ihrer Kulturgeschichte konzentriert sich Klingenstein ausdrücklich nicht auf die Textexegese, auch wenn diese vorkommt, sondern widmet sich den großen inhaltlichen Linien und den handelnden Personen. Dazu gehören neben den Autorinnen und Autoren auch die Verlagsleute und das Publikum. Von alledem erzählt sie anschaulich und flüssig und findet sogar Gelegenheit, eine versunkene Redewendung auferstehen zu lassen: „Doch aus einem Schweinsohr wird keine Seidentasche.“
Die Zeitreise beginnt mit dem Bibel- und Talmudkommentator Rabbi Schlomo Jizachki (um 1040–1105). Er war ein „Neuerer“, der unter dem Namen Raschi berühmt geworden ist. Raschi wirkte in Mainz und Worms und vor allem in seiner Geburtsstadt Troyes, wo er 1105 auch starb. Einige seiner frühen Glossen aus der Studienzeit am Rhein hat er in der Alltagssprache der dort lebenden Juden verfasst. Klingenstein würdigt ihn entschieden: „Analytische Schärfe begründete seinen Ruhm; innere Verpflichtung zur Lehre trieb ihn; Verzicht auf intellektuelle Eitelkeit, praktische Empathie und Natürlichkeit erhöhten seinen Ruf als Lehrer und Mensch.“
Der Auftaktband endet mit der erzwungenen Migration der Buchdrucker von Italien nach Polen um 1600. Zwischendurch werden viele funkelnde Facetten geboten. So war die materielle Arbeit der Frauen eines der wichtigsten Themen der frühen jiddischen Literatur: Sie wurde als Grundlage der jüdischen Existenz gewürdigt. Überdies waren Frauen offenbar intensive Leserinnen. Sie griffen nicht nur bei den „Frauenbüchlein“ zu, denen sie alle möglichen religiösen Vorschriften entnehmen konnten. Sie wandten sich zum Schrecken manch strenggläubiger Männer auch der Unterhaltungsliteratur zu, tauchten ein in die Abenteuer eines Dietrich von Bern oder Herzog Ernst. In Krakau war es Ende des 16. Jahrhunderts die Offizin Prostitz, bestehend aus dem Drucker Prostitz und dem Korrektor Böhm, die als erste ein jiddisches Sortiment für Frauen produzierte.
Spannend sind auch die Kölner Schiefertafeln, die vor 1349 entstanden und 2007 im ehemals jüdischen Viertel ausgegraben wurden. Erst 2011 wurde ihre außerordentliche Bedeutung erkannt. Auf ihnen ist eine Rittererzählung festgehalten, die – und hier wird auf die Expertise der Jiddistik-Professorin Erika Timm verwiesen – möglicherweise in frühestem Jiddisch aufgeschrieben worden ist. „Sensationell“ nennt Klingenstein diesen Fund.
Als Isaac Bashevis Singer im Jahr 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt, sagte er in Stockholm: „Yidish hot nokh vayt nisht gezogt dem letstn vort. Es anthalt oytsres vos zenen nokh nisht antdekt far der groyser velt.“ – „Jiddisch hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es enthält Schätze, die der Welt noch nicht enthüllt wurden.“ Susanne Klingenstein leistet ihren großen Beitrag zu dieser Enthüllungsgeschichte.