Kulturelle Außenseiter: Jene, die nicht mitmachen konnten, wollten, durften

Jonas Engelmanns Buch „Dahinter. Dazwischen. Daneben“ erzählt von Sonderlingen im Musik-, Film- und Kunstbetrieb.
Will will will will kein Bestandteil sein / Tausch meine Stimme gegen Vogelgeschrei / Tausch meinen Schlag / Schlag des Herzens gegen Beben“: diese Zeilen raunte Blixa Bargeld 1980 auf dem Debütalbum seiner Band Einstürzende Neubauten. Der Track „Kein Bestandteil sein“ ist ein sperriges Manifest der Verweigerung, knapp zehn Minuten Aufbegehren gegen gesellschaftlich gefordertes Funktionieren. Die Punk-Version des Bartleby’schen Diktums „I’d prefer not to“ sozusagen, geboren aus der schieren Notwendigkeit, sich gegen die Verhältnisse stemmen zu müssen. Dass die Neubauten im Lauf der Jahrzehnte immer besser mit den Verhältnissen zurechtkamen und seit Langem keine Außenseiter mehr sind, sei ihnen gegönnt, schließlich lebt es sich als staatlich anerkannter Künstler um einiges bequemer.
Doch selbstbestimmt durch kulturelle und gesellschaftliche Schichten zu wandern, aus unterschiedlichen Lebensentwürfen wählen zu können, ist ein Privileg.
Viele der in „Dahinter. Dazwischen. Daneben“ porträtierten Musikerinnen, Zeichner und Autorinnen hatten oder haben dieses Privileg der freien Wahl nicht. Ohne je in Heldenverehrung oder Verklärung eines Rock’n’Roll-Rebellentums abzugleiten, erzählt Literaturwissenschaftler, Journalist und Verleger Jonas Engelmann die Lebensgeschichten künstlerisch tätiger Menschen, die nie einen Platz in der sogenannten Mitte der Gesellschaft fanden, allenfalls an deren Rand, im Untergrund, im Schatten – oder erst gar nicht auf der Erde, sondern irgendwo im Universum: „Space Is The Place“ ist der Titel eines semi-dokumentarischen Science-Fiction-Films aus dem Jahr 1972 von und über Herman Poole Blount, besser bekannt als Sun Ra.
Mit seinem „Arkestra“ (eine Wortschöpfung aus Ark/Arche und Orchestra) schuf Sun Ra experimentelle „kosmische“ Musik, irgendwo zwischen Jazz, freier Improvisation und teilweise konventionellen Songstrukturen. Der 1914 in Birmingham, Alabama geborene Sun Ra inszenierte sich als ägyptischer Sonnengott, behauptete, in den dreißiger Jahren von Aliens entführt und auf den Saturn gebracht worden zu sein, beziehungsweise schon seit 1055 in verschiedenen Inkarnationen zu erscheinen. Sun Ra aufgrund solcher Stories als Freak abzutun, ist einfach – für ihn selbst waren diese mythischen Erzählungen Teil seiner Überlebensstrategie als Schwarzer Musiker in einem Land, das ihn nicht als Mensch akzeptierte.
Das Kapitel über Sun Ra trägt den Titel „This Planet Is Doomed“: ein Zitat, das ihn als Vorreiter und Protagonist des Afrofuturismus ausweist, den künstlerischen Widerstand gegen eine von Weißen für Weiße gemachte Welt.
Der Kampf ums Irgendwie-Durchkommen, Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung zeichnet viele der gut fünfzig in acht Themenkomplexe zusammengefassten Biografien aus. Am erschütterndsten das Kapitel, das einer Ästhetik nach Auschwitz gewidmet ist: So arbeitete die jung an Krebs gestorbene Künstlerin Eva Hesse zeitlebens gegen das Trauma an, fast ihre gesamte Familie in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verloren zu haben. Fatalistisch gab sie in einem Interview zu Protokoll, „Life doesn’t last. Art doesn’t last. It doesn’t matter.“ Jazzer John Zorn dagegen schockte sein Publikum mit einer Lärm-Performance, woraufhin die Leute entsetzt den Saal verließen – hatten sie von dem jüdischen Musiker doch ein freundliches Klezmer-Konzert erwartet.
Aber auch wenn die jeweilige Kunst nicht von buchstäblichem (Über-)Lebenskampf bestimmt ist, sind Engelmanns Porträts so fesselnd wie respektvoll. Die Sympathien des Autors – der sich bei den eigenen Eltern „fürs Sonderling sein dürfen“ bedankt – befinden sich klar aufseiten derjenigen, die nicht gern im Rampenlicht stehen. Sondern lieber die Lampe wegdrehen wie Comiczeichnerin Julie Doucet, die nach zehn Jahren das Gefühl hatte, „alles gesagt zu haben“ und die Produktion ihrer feministischen Underground-Geschichten einstellte. Da Engelmanns Arbeits- und Interessenschwerpunkt neben Literatur und Musik auf Comics liegt, ist Doucet nicht die einzige porträtierte Künstlerin aus diesem Bereich.
So erfährt man beispielsweise, dass auch Tove Jansson, finnisch-schwedische „Mutter“ der beliebten Mumins, nach einiger Zeit genug vom Zeichnen hatte, ihren Bruder die Mumin-Reihe weiterführen ließ und sich selbst aufs Romanschreiben und die Malerei verlegte. Die Mumins überstanden den Wechsel bestens und machten Weltkarriere – nicht nur auf Papier, sondern auch als erfolgreiches Merchandise-Produkt, das sich auf T-Shirts, Tassen und allerlei anderen Dingen findet. Genau das wollte der US-amerikanische Zeichner Bill Watterson für seine Geschöpfe nicht: Zehn Jahre nach dem ersten Calvin & Hobbes-Comicstrip beendete er die Reihe und verfügte, dass es außer den Büchern keine weitere Verwertung der Figuren geben darf. Ist Watterson nun ein Sonderling, der die Segnungen des Kapitalismus nicht zu würdigen weiß – oder ein verantwortungsvoller Künstler, der seine Kreaturen schützt?
Man nimmt viel mit aus der Lektüre dieses Buches, das die Schublade für „Außenseiter und Sonderlinge“ ganz weit öffnet. Einige der vorgestellten Künstler und Künstlerinnen dürften nur einem überschaubaren, eingeweihten Publikum vertraut sein, und es ist das große Verdienst des Autors, Independentmusiker wie Jeffrey Lewis mit demselben kritisch-zugewandten Blick zu betrachten wie literarische Prominenz vom Schlage einer Elfriede Jelinek oder eines Walter Benjamin. „Dahinter. Dazwischen. Daneben“ verschafft denjenigen ihren Platz im kulturellen Kanon, die kein Bestandteil sein wollten, konnten oder durften – und gerade deshalb Aufmerksamkeit verdienen.