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Kryptische Bilder

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Von: Ingeborg Ruthe

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Glitzer und Tüll in Hinterhöfen.
Glitzer und Tüll in Hinterhöfen. © Maria Sewcz

Ein Fotoband zeigt Maria Sewczs ungeschmeidige Istanbul-Bilder und den Widerspruch zwischen Schönheit und Militanz, der den Alltag in dieser berühmten Stadt ausmacht.

Der Fremde sieht nur, was er weiß. Aber wie sollte man den alten Aufklärer Goethe interpretieren, angesichts dieses Fotos vom Bosporus? Unverkennbar ist da am steingesäumten Ufer eine Schießübung anberaumt, offenbar aufs Vergnügliche, nicht den Ernstfall, gerichtet: Luftballons als Zielscheiben oder die an ihnen baumelnden Blechbüchsen.

Der Spaß dürfte dem vergehen, der sich vorstellt, auf dem Wasser käme ein Boot vorbei oder die Geschosse würden sich verirren. Die Idylle ist martialisch gestört. Aber die Busse des Istanbuler Nahverkehrs fahren pünktlich, so eine Anmerkung im Text zu den Fotos.

Maria Sewcz, Fotografin aus Berlin, hat diesen verstörenden Augenblick festgehalten: den Widerspruch zwischen Schönheit und Militanz, der den Alltag in dieser berühmten Stadt ausmacht. Sie ist zweimal nach Istanbul gereist, solcher Fotos wegen, die nun zwischen zwei Buchdeckel passen. Sie wurde begleitet von Monika Rinck, deren Texte die Bilder poetisch ergänzen, aus einer sehr anderen Perspektive als die der Millionen von Touristen, die das ganze Jahr über die Stadt fluten.

Istanbul, einst Konstantinopel

Es waren oft Winkel-Exkursionen, auch der Gang auf die Mole – mit den bereitgelegten Waffen. Rinck erzählt, dass die ganze Promenade lang auf dem Betonboden das Wort „Hayir“ aufgesprayt war. Im Türkischen heißt das „Nein“, aber, mit Betonung auf der zweiten Silbe, auch „Segen“, als Wunsch zum Ramadan.

Istanbul, mit seiner 2600-jährigen Geschichte, einst Byzanz, dann Konstantinopel, ist Nahtstelle zwischen Europa und Asien. Und mit 12,8 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Stadt der Türkei. Sie erstreckt sich auf beiden Seiten der Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, dem Bosporus. Die europäische Seite liegt in Thrakien, die asiatische in Anatolien. Damit ist sie die einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten liegt.

Foto für Foto fügt sich zu einem Essay

Maria Sewcz hat viele Aufnahmen von der Altstadt gemacht, diesem Spiegel kultureller Einflüsse zahlreicher Reiche, die durch Jahrhunderte über die Stadt herrschten. Foto für Foto fügt sich zu einem Essay über Wahrnehmung und Darstellung des Geschauten, Wahrgenommenen, unübersehbar widersprüchlich Gefühlten.

Menschen sieht man keine, und wenn doch, dann nur als Silhouette, etwa einer schwarz verschleierten Frau zwischen altem Gemäuer, Wäscheleine und Himmel. Oder als Spiegelbild in einer Café- oder Schaufensterscheibe. Die Bildfolge gleicht einem Film mit Leerstellen.

Die Motive – Hausdetails, Bosporus-Blick, labyrinthische Hinterhöfe mit Damen-Glitzer- und Mädchen-Tüllkleidchen oder Basar-Auslagen – sind in harten Sequenzen erfasst. Sewcz hat pittoresken Verfall in krassen Kontext gesetzt zu Baugruben, Straßen-Absperrungen, trostlosen Müllecken.

Maria Sewcz schaut genau hin

Alles wirkt wie zufällig beim Streifzug durch die Stadt aufgenommen – und entstand doch systematisch, überdeutlich im Kontrast, elementar und urban in den Zusammenhängen. Im Buch koppelt Sewcz jeweils zwei verschiedene Aufnahmen als Bildpaare: Wolkenkratzer am Stadtrand, Auto-Blechlawinen – und Natur unter eine verrostenden Brücke. Provisorische Abflussrohre und eine rührend rote Häkeldecke auf grünem Gartentisch. Martialische Garageneinfahrten und imposante Museumsportale.

Weder Sensationelles noch Stereotypes gibt es in den ungeschmeidigen, kryptischen Bildern. Sewcz politisiert nicht, sie kommentiert auch nicht in sozialer Hinsicht. Sie schaut nur genau hin. So entstand eine differenzierte Foto-Erzählung jenseits der Reiseprospekte und Touristenführer, aber auch jenseits der besorgniserregenden Meldungen aus der Stadt über die Gemengelage der irrationalen Macht-Politik Erdogans.

Maria Sewcz in Istanbul: Am Ende bleibt sie eine Fremde

Die 58-jährige Maria Sewcz, eine stille, fast beiläufig agierende, umso schärfer beobachtende Künstlerin, schafft es mit diesem neuen Fotobuch abermals, traditionelle, historische Orte und Orte der Veränderung vom Bild zur Sprache und von der Sprache zum Bild werden zu lassen. Unpathetisch, lakonisch.

Details wirken wie mit rätselhaften Andeutungen versehen. Alltägliches, fast Banales, Nostalgisch-Romantisches und Hässlich-Rohes werden transformiert zu etwas Größerem, Weiterem, miteinander im Zusammenhang Stehendem.

Und deutlich lässt die Berlinerin durchblicken, dass sie in dieser Stadt am Bosporus, halb modern, progressiv und laizistisch, halb archaisch und gefährlich fundamentalistisch geprägt, am Ende eine Fremde blieb.

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