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László Krasznahorkai: „Herscht 07769“ – Das Ende der Welt und wie es weitergeht

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Von: Judith von Sternburg

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„Gottlob, der Drache liegt“, BWV 19, hier gebändigt von der Hl. Margarethe am Rathaus in Kahla.
„Gottlob, der Drache liegt“, BWV 19, hier gebändigt von der Hl. Margarethe am Rathaus in Kahla. © © epd-bild / Rainer Oettel

Unterwegs in László Krasznahorkais fabelhaftem Ein-Satz-Roman „Herscht 07769“.

Heldenmut braucht es an anderen Stellen, aber Mumm gehört dazu, sich in einen Roman von László Krasznahorkai zu begeben. Man kann nicht wissen, was einen dort erwartet, aber bequem und übersichtlich wird es nicht sein, dafür aber einen unmenschlich langen Atemzug lang, diesmal mehr als 400 Seiten ohne Punkt, wenn auch mit Komma, garantiert einer der längsten Sätze der Welt, den selbst die Kapitelüberschriften nur grafisch unterbrechen können, sie müssen sich irgendwie dazwischen drängen, die Kapitelüberschriften, und nun sollte man die grammatikalische Situation nicht zu sehr dadurch relativieren, dass die Trennung von einem Hauptsatz vom anderen durch andere Satzzeichen als den Punkt eine wohlfeile Form der Satzverlängerung darstellt, die im Zusammenspiel mit Nebensätzen die Möglichkeit zu endloser Fortsetzung anbietet, wodurch nicht selbstverständlich ein gigantisches Gebäude entsteht, sondern im Prinzip eine Reihenhauszeile in dem Alptraum eines Grundschulkindes, das die Eingangstür zum Haus seiner Tante sucht.

Aber das ist in den Büchern von László Kraznahorkai, der es auch nicht immer so toll treibt wie diesmal, keine Manier. Es bestimmt den Lese- (und vermutlich den Schreib-)rhythmus. Denn der unmenschlich lange Atemzug lässt sich von einem Menschen ja nicht nachvollziehen, er gerät beim Lesen in ein unaufgeregtes, aber stete Aufmerksamkeit erforderndes Nach-Luft-Schnappen. Weder dem Satz noch der Leserin oder dem Leser geht die Puste aus, aber Atemtechnik braucht es schon.

Der Satz stellt den gnadenlos, nein, gleichmütig weiterfließenden Strom der Zeit nach. Man hört die Uhr ticken, wie man sie im Leben ticken hört, sobald man daran denkt. Eine Einbildung beziehungsweise ein sprachlicher Behelf, denn die Zeit braucht keine Uhr um voranzukommen, Krasznahorkai auch nicht.

Es ist also eine entspannt daherkommende, eine zwingende Methode, diesmal wieder durch die Übersetzerin Heike Flemming ungemein selbstverständlich vom Ungarischen ins Deutsche transportiert. Wer in diesen Satz hineinspringt wie in kaltes Meereswasser, mag zunächst erschüttert sein, wenn ihm klar wird, in was für einem riesigen Ding er hier gelandet ist. Aber kaltes Meereswasser hat nach einiger Zeit bekanntlich genau die richtige Temperatur, und wenn es dann doch wieder kalt wird, ist das Bild vom Meer längst abgehakt.

Denn László Krasznahorkai, im Januar 68 geworden, hat sich wieder etwas einfallen lassen. „Herscht 07769“ spielt in Ostthüringen, die Postleitzahl im Titel, eine Art Internet-Alias, verweist auf den Saale-Holzland-Kreis, zu dem das Städtchen Kahla gehört. Kana heißt der Ort im Buch, in dem der junge, arglose, bärenförmige und auch bärenstarke Florian Herscht seit einiger Zeit lebt.

Das Buch

László Krasznahorkai: Herscht 07769. Roman. A. d. Ungar. v. Heike Flemming. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021. 414 S., 26 Euro.

Der Mann, der ihn hierhergebracht (ein Waisenkind, munkelt man, als sich nachher nämlich die Polizei anfängt zu interessieren), ihm eine Wohnung und Arbeit besorgt hat, der „Boss“, ist ein elender Nazi. In Kana, lernt man, gehört das gewissermaßen dazu, jedenfalls sagt Frau Ringer zu ihrem zornigen Mann, der keiner ist: „... fordere nicht das Schicksal gegen dich heraus, denn hier sind fast alle Nazis, selbst die, die nichts davon wissen, dagegen kann man nichts tun, nur persönlich schützen, was du schützen musst, deine Familie, mich, das musst du tun, nein, widersprach Ringer heftig, ich bin nicht nur für mich und für dich verantwortlich ...“

Jenseits der vielen Nazis ergibt sich aber ein differenziertes Bild. Herschts Mentor ist zum Beispiel ein freundlicher, kluger Mathe- und Physiklehrer a. D.. Fatalerweise hat sein Schüler das Materie-Antimaterie-Thema allerdings falsch (oder womöglich zu richtig) verstanden. Die labile Verfassung der Welt, die wie sie kam auch jederzeit wieder verschwinden könnte, sogar müsste, bringt ihn dermaßen zur Verzweiflung, dass er – weit vor Beginn des Romans – anfängt, Briefe an Kanzlerin Angela Merkel zu schreiben. Um sie zu warnen und zum Handeln aufzurufen. Immerhin ist sie selbst Physikerin.

Florian Herscht mag seiner Umgebung vorkommen wie ein Simpel, „der Verrückte der Stadt“, aber wir lernen ihn als nachdenklichen Menschen kennen, der zu Ende bringt, was er glaubt, zu Ende bringen zu müssen. Das wird noch eine Rolle spielen.

Der Boss, ein Freund grimmig vokalreduzierter Sprache („vrdmmt“), herrscht im vergammelten Gebäude Burg 19, dem Treffpunkt der Szene. Neben einer windigen Reinigungsfirma betreibt er den „Schreckensverein“ der Kanaer Symphoniker, eine Combo wie aus dem schönsten Ganovenfilm. Johann Sebastian Bach ist der Leitstern des Unterfangens und des Buches. So finster die Absichten des Bosses, der den Komponisten nationalistisch ausschlachtet, so ergreifend ist es, wie sich Herschts vorerst taube Ohren für die Musik öffnen werden.

Eine gigantische Gleichung tut sich auf: Während der sympathische Lehrer Florian versehentlich beibringt, dass die Welt endet, bringt ihn der schuftige Boss auf die Spur des gewaltigen Gegengewichts zu aller Zerstörung. Ein langer Weg zur Erkenntnis: „... in Johann Sebastian Bach“, stellt Florian Herscht schließlich fest, „gab es NICHTS BÖSES, na, und das konnte man der unvermeidlich scheinenden Gefahr entgegensetzen, Bachs Kunst fehlte einfach das BÖSE, Bach hatte sie geschaffen, und es gab nichts, das sie zum Einsturz bringen konnte, im Gegensatz zum Universum, und in Bachs Kunst gab es keinen Zufall, aber nicht vor ihrer Entstehung nicht, sondern von dem Zeitpunkt an, da sie geschaffen worden war, es gab und gab ihn nicht und würde ihn nie geben, nichts Zufälliges, keine Veränderung würde mehr auftauchen, denn Bach war STABILE STRUKTUR und würde das auf ewig bleiben, so wie ein idealer Kristall, einer aus dem Märchen ...“

Daraus darf man aber keine zu optimistischen Schlüsse ziehen. Es ist nicht überraschend, dass auch in Kana katastrophische Ereignisse ihren Verlauf nehmen, Krasznahorkai, ein Meister der örtlich begrenzten Apokalypse, treibt eine Gewaltspirale voran. Zunächst: klassisch realistisch. Dann: ungewöhnlich. Florian Herscht braucht sehr lange, um zu begreifen, was hier los ist. Dann zieht er los, es wird blutig, und Genicke knacken. „Florian“, stellt Frau Ringer, eine Frau mit Übersicht, jedoch fest, „hatte sich nicht geändert, alles, was er getan hatte, folgte haargenau aus dem, der er gewesen war und blieb ...“ Gewalt ist nie keine Lösung, aber man kann sich dem mit den Wölfen durch die Thüringer Nacht ziehenden Florian Herscht, diesem selbstständig gewordenen Golem mit nichts als Bach im Kopf, nicht entziehen.

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