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Die Kostümprobe

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Boris Schitkow schildert in seinem wunderbaren, lange unterdrückten Roman "Wiktor Wawitsch" die russische Revolution von 1905

Von MICHAEL GRUS

Schon die erste Beinah-Veröffentlichung seines Romans hatte der Autor nicht mehr erleben dürfen (oder müssen). Als Boris Schitkow 1938 in Moskau starb, waren nur einzelne Teile vorab publiziert worden, drei Jahre später lag die erste Auflage des vollständigen Werks bereits gedruckt und fertig gebunden vor - und wurde sogleich wieder eingestampft. Die Titelgestalt war alles andere als ein Held, der in diese Zeit und das Propagandagetöse zum Großen Vaterländischen Krieg gepasst hätte. Nicht einmal zu einem ordentlichen Schurken taugte diese traurige Figur eines Polizeibeamten aus der Endzeit der zaristischen Epoche, der aus der beschaulichen Provinz kommend mitten in die revolutionären Ereignisse um das Jahr 1905 gerät und darin untergeht.

Wiktor Wawitsch, ein schlichter Mann aus einfachen Verhältnissen, der gelegentlich schon mal die Stirn "runzelte, um zu denken. Aber es kam ihm kein Gedanke." Doch auch die fortschrittlicheren Gegenspieler, die Studenten und Angehörigen des liberalen Bürgertums, ja selbst die Fabrikarbeiter und Hausknechte blieben den eindeutigen Klassenstandpunkt weitgehend schuldig. Und bei der Zögerlichkeit, mit der die Morgendämmerung in Schitkows Roman ihre Auftritte hat, schien sich sogar die Natur gegen die Aufbruchssymbolik des Sozrealismus verschworen zu haben.

Autobiographisches verarbeitet

Einzelne Exemplare des Romans immerhin sollen der Vernichtung seinerzeit entgangen sein, aber erst 1998 konnte das "beste Buch über die russische Revolution" (Boris Pasternak) zum erstenmal vollständig in Russland erscheinen. Der Name des Autors fehlt auch in den neuesten westlichen Überblickswerken zur Geschichte der russischen Literatur, was sich aber, nach der überaus verdienstvollen Ausgabe des Hanser Verlags in der deutschen Übersetzung von Rosemarie Tietze, mit Sicherheit ändern wird.

Der zwischen 1928 und 1934 entstandene Roman basiert auf konkreter Erfahrung der Revolutionsereignisse, in deren Sog der 1882 in Nowgorod geborene Boris Schitkow als junger Naturwissenschaftler geriet. Offenbar sind autobiographische Motive verarbeitet, denn wie ein Teil seiner Protagonisten stammt der Autor aus dem Intelligencija-Milieu, das neben der Arbeiterschaft ursprünglich zu den Trägern der revolutionären Bewegung in Russland gehörte. So kommt Sanka Tiktin, Chemiestudent wie Schitkow, aus großbürgerlichem Elternhaus. Der Vater ist liberaler Abgeordneter der städtischen Duma, die wenig ältere Schwester Nadja liest Marx und Nietzsche und versucht, mit eher mäßigem Erfolg, Arbeitern in Abendkollegs das Thema Ausbeutung durch indirekte Steuern nahe zu bringen

Die Familie wird eine wichtige Rolle spielen im Leben von Wiktor Wawitsch, wobei die Begegnungen für beide Seiten in der Regel unerfreulich verlaufen. Für die vom zaristischen Geheimdienst bespitzelten Tiktins bei der nächtlichen Haussuchung natürlich sowieso, zumal Nadja mittlerweile auf der Fahndungsliste steht. Aber der unsichere, stets mit Autoritätsproblemen kämpfende Revierbeamte hat auch seinen Stress. An sich ist dieser Wawitsch kein übler Kerl, hätte er bloß nicht den geruhsamen Posten eines Reserveoffiziers im verschlafenen Provinzstädtchen mit dem eines "Beamten für innere Angelegenheiten" in der "Stadt N." vertauscht. Tatsächlich entwickelt sich die große "steinerne Stadt" zur eigentlichen Hauptperson in diesem breit ausgeführten und figurenreichen historischen Tableau. In den Fabriken gärt, auf Straßen und Plätzen brodelt es und in den bei Nacht unsicheren Vorstädten vertrinken die Arbeiter ihren Lohn in überfüllten Kneipen.

Der Roman schildert die erste russische Revolution in ihrer ganzen Entwicklung, deren traurigen Höhepunkt nicht der Petersburger "Blutsonntag" des Januars 1905 bildet, sondern die landesweiten Judenpogrome des darauf folgenden Herbstes. Das Oktobermanifest des Zaren hatte demokratische Freiheiten versprochen, doch mitten hinein in die dadurch ausgelöste Volksfeststimmung dringen Berichte von Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung. Die Polizisten haben ihre Uniformen gegen Räuberzivil getauscht und beteiligen sich mit zuvor aus den Gefängnissen entlassenen Kriminellen an den fürchterlichsten Übergriffen.

Schitkow arbeitet mit einem ausgesprochen modern wirkenden Collage-Verfahren, Döblins Berlin Alexanderplatz entstand vielleicht nicht zufällig zur selben Zeit. In etwa 150 kürzeren Kapiteln entwickelt das Geschehen bei oft raschen Szenen- und Ortswechseln eine unaufhaltsame Dynamik. Für einen alles überschauenden Erzähler ist da kein Platz, zumal der Autor immer so dicht am Geschehen und seinen Figuren ist, dass er quasi mit ihnen gemeinsam an Demonstrationen teilnimmt oder vor prügelnden Kosaken flieht. So gerät auch der Leser als Augen- und Ohrenzeuge mitten hinein in den Tumult.

Bevor Wawitsch seinen Dienst als Quartieraufseher antritt, muss er sich statusgerecht einkleiden, doch von seiner Operetten-Uniform kann er lediglich den funkelnden Säbel wirklich einmal gebrauchen, um der mannstollen, ihn zeitweise protegierenden Gattin des Polizeichefs etwas schneller aus den Kleidern zu verhelfen. Die "Kostümprobe der Revolution", wie Pasternak die Ereignisse von 1905 nannte, verläuft für den Polizeibeamten desaströs, mit seinem ganzen Habitus steht er symbolisch für den Mummenschanz einer im Innern maroden zaristischen Selbstherrschaft.

Wawitsch, dem jede natürliche Autorität fehlt, muss eine Kette von Demütigungen über sich ergehen lassen, da er sein Amt streng und polternd zwar, aber zunächst gerecht und unbestechlich versieht. Doch der Anpassungsdruck des Systems entfremden ihn, den unsicheren - an sich gutmütigen "Tölpel" - seiner selbst, so dass er am Ende alles verlieren wird. Seine junge Frau Grunja, bei der sich natürliche Herzensgüte mit weiblichem, diplomatischem Geschick auf überraschende Weise verbindet, nicht einmal zuletzt.

Überhaupt sind es die Frauen in diesem Roman, die sich angesichts von Polizeiwillkür und exzessiver Gewalt das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen. Zwar wird eine am Schluss ihrem Geliebten wie einst Sonja dem sühnenden Raskolnikow in die Verbannung folgen, aber mit Dostojewskijs madonnengleichen Assistenzfiguren haben die Frauen Schitkows schon längst nichts mehr am mitunter modebewusst ausgewählten Hut.

Um die Jahrhundertwende war der politische Organisationsgrad der russischen Frauen höher als in den übrigen europäischen Ländern. Die meist aus bürgerlichen Schichten stammenden Frauen galten als das moralische Gewissen der revolutionären Bündnisse, indessen blieb die herkömmliche Rollenverteilung in den dabei häufiger entstehenden Partnerschaften weitgehend gleich. So auch im Wiktor Wawitsch. Nadja Tiktin verliebt sich in ihren Genossen und Nachhilfe-Schüler, den Arbeiter Filipp, den es zunächst eher aus verletztem Malocherstolz, zu den Aufständischen zieht. Nach dem endgültigen Abgleiten in die Illegalität ist es mit der Arbeiterromantik jedoch vorbei, wird der von den Folgen der Straßenkämpfe gezeichnete Geliebte zum nörgelnden Haustyrann. Nadja muss sich von einem befreundeten, sie vor polizeilichen Nachstellungen schützenden Staatsanwalt sogar noch die Diagnose gefallen lassen, wohl eine Vorliebe für bestimmte "Klasseneigenheiten", insbesondere von Sklaven, zu hegen. Ihrer Freundin Tanja würde man einen solchen Spartakus-Komplex kaum unterstellen. Zwar tritt sie anfangs als selbstverliebtes Modepüppchen in Erscheinung, doch ihre Kostümproben dienen gleichwohl mehr der Tarnung eines überaus couragierten Charakters, der am Ende, um den Geliebten zu retten, auch vor einem mörderischen Entschluss nicht Halt macht.

Vorurteilsfrei behandelt Schitkow gerade seine zwiespältigsten Figuren, die ohne solche Empathie im Lager der Schurken unrettbar verloren wären. Neben Wawitsch ist das Baschkin, ein aufdringlicher, gleichwohl harmloser kleinbürgerlicher Zeitgenosse, der von den gleichaltrigen Bekannten verachtet und geschnitten wird. Er gerät in die Mühlen des Geheimdienstapparats, wird zum Spitzel gepresst und pikanterweise bei den Tiktins platziert, der Familie, die ihm wenigstens durch Mutter und Tochter Verständnis entgegenbringt. Schwankend zwischen Märtyrerfantasien und Tatenlosigkeit verkörpert Baschkin die heruntergekommene Schwundstufe des "überflüssigen Menschen" des russischen Realismus. In Ermangelung eines positiven Helden, und da die Berufsrevolutionäre sich auf Beschaffungskriminalität im großen Stil, auf Bank- und Bahnraub konzentrieren, wird schließlich er die Bombe zünden müssen.

Und doch gibt es noch diese vorbildlichen Menschen, freilich nicht nach den Maßstäben des Sozialistischen Realismus, und eine Macht der Liebe, die sich den Verhältnissen widersetzt. Taissa, die Schwester Wawitschs, liebt den jüdischen Musiker Israilson, eine zarte, schier aussichtslose Romanze in der Provinz. Dass beide ein inszeniertes Pogrom gegen die Intelligencija wenigstens überleben, setzt am Schluss das so bitter nötige Zeichen von Hoffnung.

Boris Schitkow: "Wiktor Wawitsch". Roman. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag, München / Wien 2003, 736 Seiten, 27,90 Euro.

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