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Die Königskinder, die zueinander kommen durften

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Von: Cornelia Geissler

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Bernhard Schlinks neuer Roman „Olga“ bewegt sich wieder durch deutsche Geschichte.

Wenn man will, findet man oft, wonach man sucht. Im neuen Roman von Bernhard Schlink zum Beispiel lässt sich bald etwas entdecken, das auf seinen großen Erfolg, auf den „Vorleser“ hindeutet: Ein junger Mann fühlt sich zu einer älteren Frau hingezogen. So vertraut wie mit ihr geht er mit keinem Menschen um. Sie lehrt ihn vieles anders, als er es in der Schule gehört hat. Damit enden die Parallelen aber schon.

Diese Frau, Olga, sie gab dem Buch den Titel, ist belesen, hat einen kritischen Blick auf die Gesellschaft. „Sie hatte den Nationalsozialismus von Anfang an abgelehnt – wieder sollte Deutschland zu groß werden, nachdem Bismarck es schon zu groß gewollt und gemacht hatte.“ Der junge Mann, Ferdinand, fungiert im zweiten Teil des Romans als Erzähler. Er lernt Olga als Näherin kennen, die bei ihm zu Hause herrichtet, was seine Mutter für sie zurechtlegt.

Es ist ein Pfarrershaushalt mit mehreren Kindern, es ist die Nachkriegszeit in Westdeutschland, da gab es wenig zu kaufen und viel umzuarbeiten und zu flicken. Olga ist taub, doch mit dem Sprechen hat sie keine Probleme. Sie erzählt dem Jungen Märchen aus Schlesien und Pommern, berichtet dem Heranwachsenden von sich, nimmt Anteil an seinem Leben als Student. Wie sie sich selbst durchsetzte, weiß der Leser da bereits aus dem ersten Teil, der auktorial erzählt ist.

Bernhard Schlink breitet also zuerst auf reichlich hundert Seiten Olgas Vorgeschichte aus. Sie ist von Anfang an als eine starke Figur angelegt, die für ihre Ziele kämpft. Sie wächst bei der Großmutter in Pommern auf, ein wissbegieriges und mutiges Mädchen, das sich mit den Kindern aus der reichsten Familie des Dorfes anfreundet. Lehrerin möchte sie werden. Herbert, ihr Kindheitsfreund, träumt von weiten Reisen und großen Entdeckungen. Sie verlieben sich, das einfache Mädchen und der Gutsherrensohn.

Bernhard Schlink erzählt dies aber nicht als Geschichte von Königskindern, die nicht zueinander dürfen, er lässt ihnen ihren eigenen Raum, erfindet für sie eine utopische Insel: „Sie hatten sich zwischen den Klassen gefunden und fühlten sich durch deren Konventionen nicht gebunden.“

Aber die Konventionen erwiesen sich doch als stärker. Der Roman beginnt noch im 19. Jahrhundert und folgt Olgas Weg vom Kaiserreich mit seinen Kolonialansprüchen über die Weimarer Republik, Hitlers Diktatur, den Weltkriegen und deren Folgen für Deutschland. Bis über die Studentenunruhen in der Bundesrepublik hinaus erzählt Schlink von seiner Figur. Herbert geht als Soldat der kaiserlichen Armee nach Deutsch-Südwestafrika. Olga wird als Lehrerin nach Ostpreußen versetzt, in ein Dorf bei Tilsit. Herbert reist bald um die Welt. Zu einer Heirat gegen den Willen der Familie fehlt ihm der Mut, eine andere Frau will er nicht. Als er zu einer großen Expedition in die Arktis aufbricht, schreibt sie ihm Briefe nach Tromsö in Norwegen, postlagernd.

Die deutsche Geschichte ist ja das literarische Thema des Juristen Schlink, sein Bedürfnis, von ihr zu erzählen, hat zuweilen die Figuren zu Statisten verkommen lassen. Olga dagegen stattet er überreichlich mit Erfahrungen und Ansichten aus. Die Taubheit, die sie in den dreißiger Jahren ereilt, lässt sich als Abwehr gegen die Politik der Nazis deuten, die bis zu ihrer Schule vordringt. Doch ihre Ablehnung alles groß Gedachten führt zu einer seltsamen Tücke des Romans. Der Erzähler Ferdinand versetzt sich noch als pensionierter Ministerialbeamter in Olga. „Heute würde sie über die Medien spotten, die das Recherchieren verlernt und durch moralisierendes Skandalisieren ersetzt haben“, schreibt Schlink. „Sie würde das Bundeskanzleramt und die Bundestagsgebäude und das Holocaustdenkmal zu groß finden.“ Er schreibt seiner Figur eine Meinung über den Tod hinaus zu. Da vermittelt der Autor eine eigene Botschaft, schlecht verpackt.

Der dritte Teil des Romans enthält die Briefe nach Tromsö. Ferdinand hat sie sich auf verschlungenen Wegen besorgt. Sie geben letztlich der Figur der Olga die genaue Kontur. Vieles, was zuvor Behauptung geblieben ist, wird nun mit psychologischen und emotionalen Aspekten unterfüttert.

Auch ein Geheimnis wird gelüftet. Das ist dem Autor nicht zufällig unterlaufen, sondern Kalkül. Nur so lässt sich erklären, warum Olga noch nach Norwegen schreibt, als längst nicht mehr nach der deutschen Expedition gesucht wird. Als folge sie mit den in größeren Abständen geschriebenen Briefen dem Bedürfnis, Bilanz zu ziehen: Vom Leben einer Frau, die stets mehr erreichte, als die Gesellschaft ihr zugedacht hatte. Und so passt es recht gut in unsere Zeit.

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