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Kinderbuch „Der erste Schritt“: Wie die Schäfin sich die Welt vorstellt

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Von: Judith von Sternburg

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Morgenappell mit der Schäfin. Ist aber nicht schlimm und das Frühstück (rechts im Eck) schmeckt gut. Pija Lindenbaum/Klett Kinderbuch
Morgenappell mit der Schäfin. Ist aber nicht schlimm und das Frühstück (rechts im Eck) schmeckt gut. Pija Lindenbaum/Klett Kinderbuch © Pija Lindenbaum/Klett Kinderbuch

Pija Lindenbaums Bilderbuch „Der erste Schritt“ erzählt fabelhaft von einer Zweiklassengesellschaft – und wie wenig es braucht, eben doch etwas zu verändern.

Lakonisch erzählt die Schwedin Pija Lindenbaum in ihrem neuen Bilderbuch von Freiheit und Gerechtigkeit. Lakonisch und mit einer Gemütsruhe, die einem gleich nordisch vorkommt. Die Kinderschar, um die es geht, sieht aus wie ein Grüppchen Chorknaben. Die Schäfin, hi hi hi, ist ein Hund im Pastorengewand. Mit Trillerpfeife. Schäfin ist ein grandioses Wort, die Übersetzung von Jana Hemer dürfte der Kunstfertigkeit der schwedischen Variante kaum nachstehen.

Aber zur Sache: In „Der erste Schritt“ sind Ungerechtigkeit und Gefangenschaft subtile Gegebenheiten, nicht so schön eindeutig, wie man sie sich vorstellt, wenn es um diese großen Begriffe geht: Gerechtigkeit, Freiheit. Oder, nein, sie sind eindeutig, aber die, die es betrifft und die es nicht anders kennen, merken es nicht. Und weil Lindenbaum einen von ihnen erzählen lässt, fällt es auch unsereinem nicht sofort auf. Dabei ist es ganz schön brutal.

Unverzüglich führt Lindenbaum in ein seltsames Ländchen. Zwei Gruppen Kinder leben hier, aufgeteilt in Ringelblumen und Primeln. „Es ist fast wie in der Kita, aber man wird nicht abgeholt“, erläutert das Ich-Erzählerchen ein wenig verräterisch, denn woher soll es wissen, was eine Kita ist. Aber schon ist man viel zu interessiert, um sich damit aufzuhalten. Drumherum ums Ländchen eine weiße Linie (wie so eine Schaumlinie beim Strafstoß, aber so gut kennt sich das Erzählerchen dann auch wieder nicht aus), die nicht überschritten werden darf. Ist gefährlich. Keiner fragt nach. Fragen zu stellen, will gelernt sein.

Das Buch:

Pija Lindenbaum: Der erste Schritt. A. d. Schwed. v. Jana Hemer. Klett Kinderbuch, Leipzig 2023. 48 S., 18 Euro. Ab 4 Jahren.

Ein Ringelblumenkind erzählt diese Geschichte, auch darum fällt zunächst nicht auf, dass es nicht so schön ist, wie es aussieht. Die Schäfin ist die Chefin, aber volle Pulle. „Wir müssen uns nie selbst was ausdenken. Und das ist ja sehr praktisch.“ Da mag beim Lesen Misstrauen keimen – dazu auch Schäfins Trillerpfeife, die so unangenehm an den Sportunterricht erinnert –, aber auf der nächsten Seite wird getanzt und Musik gemacht, wird gemalt und durch die Natur spaziert. Man kann von der Schäfin viel lernen. Während die Ringelblumen allerdings Trampolin springen und mit Segelbötchen über den Teich schippern, schälen die Primeln Kartoffeln, putzen Schuhe und schleppen Steine. Natürlich klingt das jetzt sehr offensichtlich, aber Lindenbaum lässt es vorerst so mitlaufen. Nun fällt einem auch erst auf, dass die Primeln nicht so hübsche Chorknabenkrägelchen haben und ein wenig ungesunder aussehen. Einmal in der Woche bekommen aber alle die gleiche Topffrisur nachgeschnitten. Lindenbaums feine klassische Bilder zeigen eine gemixte Gesellschaft von heute, ob die Verhältnisse, in denen die Kinder leben, einstige oder zukünftige – oder eben heutige – sind, lässt sie offen. Auch bei Margaret Atwoods „Report der Magd“ ist das Künftige ja extrem rückwärtsgewandt.

So und dann fragt Erzählerchen eines Tages doch, warum die Primeln nicht mitmachen dürfen, in diesem Fall beim Malen. „,Das ist doch ungerecht‘, sage ich. ,Das soll hier auch ungerecht sein. Ich mag es, wenn es ungerecht ist‘, sagt die Schäfin. Ach so, denke ich.“ Gleichwohl kommt etwas in Gang. „Der erste Schritt“ erzählt aber nicht von Protest und Revolution, es erzählt davon, wie man ein System unterminieren kann, wenn man es möchte und alle – unpathetisch, wie gesagt: nordisch – an einem Strang ziehen. Die Kinder tauschen die Kleider und die Aufgaben. Die Aufgaben der Primeln zu übernehmen, ist langweilig, stellt die Ex-Ringelblume fest, aber es ist auch gerecht. Die Primeln haben derweil Spaß beim Federballspielen. Die Schäfin merkt es fast gar nicht. Sie ist auch nicht bewaffnet und nicht gewalttätig, das muss man auch dazusagen. Wer aber so weit kommt wie die Kinder jetzt, kommt dann auch noch über die weiße Linie.

Im ersten Moment wirkt das fast zu einfach, zu sanft. Warum ist die Welt so ungerecht, wenn es so leicht ist, wenigstens im kleinsten, eigenen Kreis etwas dagegen zu tun? Ja, genau.

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