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Kenneth Fearing „Die große Uhr“: Heute liest doch keiner mehr

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Von: Sylvia Staude

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1946 in New York: ein Wagen, der die „New York Post“ ausfährt.
1946 in New York: ein Wagen, der die „New York Post“ ausfährt. © AFP

„Die große Uhr“ von Kenneth Fearing, ein origineller Noir von 1946.

Der 1902 geborene, 1961 gestorbene US-Amerikaner Kenneth Fearing hat sich mit Schreiben so durchgewurstelt, als Lyriker und Journalist, als Mitbegründer der „Partisan Review“, eines wichtigen Kulturmagazins, als Autor von Sexgeschichten für Pulp-Magazine. Ein Noir war sein größter Erfolg, mit „The Big Clock“ von 1946 verdiente er rund 10 000 Dollar, kein Geringerer als Boris Vian übersetzte das Buch 1947 ins Französische. Fearing trat Paramount die Filmrechte ab, so erzählt es Herausgeber Martin Compart im Nachwort, und sah sich später übers Ohr gehauen. Immerhin spielten Charles Laughton und Maureen O’Sullivan mit.

Erstmals auf Deutsch herausgebracht hat „Die große Uhr“ jetzt der kleine Elsinor Verlag, die Übersetzung von Jakob Vandenberg trifft den Ton einer vergangenen Zeit – und bewahrt eine Sprache, die stellenweise den Lyriker durchblitzen lässt in hochoriginellen Wendungen. Da ist Bosheit flüssig und ein Lächeln winterkalt. Und statt dass man einen dummen, kriecherischen Menschen am Hals hat, hat man „einen Wurm am Finger“.

Hochoriginell ist auch die Handlung. Hauptfigur George Stroud – überwiegend ist er der Ich-Erzähler, aber auch sechs andere Figuren erzählen aus ihrer Perspektive – hat eine Affäre mit der unheimlich blonden, unheimlich schönen Geliebten seines Chefs, Earl Janoth.

Er wurde mit ihr gesehen, freilich nicht erkannt. Und war als „Unbekannter“ scheinbar der Letzte, der mit ihr zusammen war, ehe sie erschlagen in ihrer Wohnung gefunden wurde. Stroud weiß es nun aber zufällig besser, denn er ist wiederum der Einzige, der gesehen hat, wie Janoth ins Haus ging. Wie soll er das der Polizei beweisen?

Fearing macht die Chose noch vertrackter für die unschuldige Hauptfigur: denn die Geschichte spielt in einem „Imperium der Informationsbeschaffung“, unterschiedlichste Magazine erscheinen dort, von „crimeways“ bis Kunst, und Verlagsboss Janoth setzt seine Rechercheure darauf an, diesen Fremden zu finden – wäre doch ideal, wenn der auf dem elektrischen Stuhl landen würde und die Polizei gar nicht mehr auf die Idee käme, in anderer Richtung zu ermitteln. Und wer soll die Recherche koordinieren? George Stroud. Seiner Familie fällt auf, dass er angespannt ist, seinen Kollegen ebenso.

Das Buch:

Kenneth Fearing: Die große Uhr. Roman. A. d. Engl. von Jakob Vandenberg. Elsinor, Coesfeld 2023. 200 S., 20 Euro.

Er schickt die seiner Meinung nach Unfähigsten zu den Orten, an denen er mit der Geliebten Janoths gesehen wurde – aber die sind eifrig und gar nicht so ungeschickt dabei. Und er kann immer noch nicht beweisen, dass sein Boss nach ihm noch am Tatort war. Stroud ist übrigens eine durchaus unsympathische Figur, trotzdem beginnt man bald, mit ihm zu bangen.

Für jemanden, der selbst in der „Informationsbeschaffung“ arbeitet, ist allerdings noch etwas anderes faszinierend an diesem Roman: so kurz nach der Zerschlagung von Gruner + Jahr liest man von der Übernahme eines großen Verlags Mitte der 1940er Jahre (aber war das nicht eine goldene Presse-Zeit?), liest, wie ein gerade noch stolzer New Yorker Verlag geschluckt wird, weil er zu viele, zu teure Leute beschäftigt hat. Sicher ist, dass bei weitem nicht alle ihren Job behalten werden.

Der Redakteur, der an einer Geschichte über den „Bürgerkredit“ und seine mögliche Einführung saß (eine Art Grundeinkommen – ja, alles schon mal dagewesen), soll das Thema nun als Comic-Strip ins Auge fassen, dramatisiert und in Bildern. „Heute liest doch keiner mehr“, sagt ausgerechnet George Stroud.

Ein bald 80 Jahre alter, gleichzeitig verblüffend aktueller Roman, der es gleich auf die Krimi-Bestenliste schaffte. Wie schön, dass er ausgegraben wurde.

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