Keine zu großen Erwartungen

Aus dem Leben eines hungrigen jungen Offenbachers: Heute erscheint Silke Scheuermanns raffinierter, aber schlicht daherkommender Roman „Wovon wir lebten“.
Silke Scheuermanns neuer Roman heißt „Wovon wir lebten“ und erzählt, wovon ein junger Mensch und seine Bekannten lebten. In Offenbach, das ist nicht immer einfach, später in Frankfurt, auch nicht immer einfach. Als Kinder natürlich von den Eltern – ebenfalls schwierig, kommt jedenfalls sehr auf die Eltern an –, dann gesellen sich Kleindealereien dazu. Später von schwerer Maloche als Schlosser, wobei die Drogensachen trotzdem weitergehen. Schließlich wird der junge Mann Koch, was sich bloß so ergibt, aber als Berufung erweist.
Und wovon lebten sie noch? Von Freundschaft und später Liebe, klar, denn das macht zwar nicht satt, aber das Sattsein reicht auch irgendwie nicht. Der junge Mann bekommt „Hunger auf die ganze Welt“, nicht direkt nach Ruhm, aber doch nach Anerkennung. Ein bisschen Ruhm gibt es dann doch, mit einer Kochsendung im HR, die gut läuft, obwohl der Kochsendungs-Hype abgeflaut ist, wie Redakteurin Bettina weiß.
Und was ist mit der Missetat, von der der Mensch Brecht zufolge allein lebt (und es ist schwierig, sich den Buchtitel völlig ohne Brecht vorzustellen)? Ja, sie spielt eine Rolle, aber sie ist nicht allein. Ein Kaninchen wird ermordet, ein Rivale übel zusammengeschlagen, eine Frau schlecht behandelt und eine andere Frau noch schlechter. Marten Wolf ist kein Kind von Traurigkeit.
Marten Wolf heißt er also, ein Ich-Erzähler von klarsichtiger Natur und sprachlich ungedrechselt. Nicht umsonst wird er nicht Kunstschreiner, wie sein bester Freund Micha, sondern Schlosser. Nicht umsonst mögen ihn die Frauen – er sieht offenbar gut aus und geht regelmäßig trainieren –, aber er ist vorerst ein Grobian. „Zum Nachtisch werde ich sie gleich noch mal flachlegen.“
Die Lyrikerin Silke Scheuermann wird eine Weile herumprobiert haben, bis sie den ruhigen, glaubwürdigen Junge-Mann-Ton für ihren vierten, bei weitem umfangreichsten Roman gefunden hat. Marten ist ja kein Idiot, aber es ist nicht ganz einfach, das darzustellen, wenn einer Haustierchen meuchelt und Freundinnen wie den letzten Dreck behandelt. Scheuermann weiß das und baut eine großartige Szene ein, in der eine Autorin in einer Fernsehdiskussion wie von ungefähr genau das gefragt wird: Wie sie über so jemanden dermaßen sympathisierend und so konsequent aus Sicht des Mannes schreiben konnte. Statt der Autorin antwortet eine „Literaturfrau“ und hat „mit ihrem fremdwortgespickten Wortschwall in kürzester Zeit alle niedergemäht“.
„Wovon wir lebten“ ist glücklicherweise wirklich sehr weit entfernt von einem lustigen, tragischen, überkandidelten (und leicht verfilmbaren) Coming-of-Age-Roman – obwohl es neben lustigen und tragischen auch überkandidelte Szenen gibt, schon durch den Drogenkonsum. Stattdessen hat Silke Scheuermann offensichtlich den guten alten Entwicklungsroman im Sinn, gar den Erziehungsroman. Marten findet Helfer und Gönner, ganz besonders einen, der einiges auf dem Kerbholz hat und dem der junge Mann auf verwickelte Weise verbunden ist.
Im Idealfall kommt einem das bereits bekannt vor: Ein mysteriöser Kredit, Marten denkt, er wird wohl von einer gewissen Frau von Sternberg kommen, strenge Tante der wunderschönen, eigenartigen Stella, in die er sich schon als Kind verliebt hat. Silke Scheuermann hilft aber auch noch einmal raffiniert nach. Als Marten für einige Tage in Haft muss – nach einem Gerangel wird gleich Einzelhaft daraus –, hat er nur ein einziges Buch dabei, rasch noch aus dem Regal der Mutter gezogen. „Charles Dickens. Erwartungen, nein: Große Erwartungen. Irgendwie ironisch. ... Gebe ich diesem Dickens also eine Chance. Quäle ich mich durch die erste Seite. Es geht um einen Jungen, der sich auf einem Friedhof herumtreibt. Okay. Auf dem Friedhof liegen nicht nur seine Eltern, sondern auch, unter kleineren Steinen begraben, seine fünf Brüder. Fünf! Na toll, das macht richtig Laune.“
Dickens' Werk als Folie
Marten liest nicht mehr weiter. „Ich pfeffere den Schinken in die Ecke.“ So wird er nie erfahren, dass es tatsächlich seine eigene Geschichte ist, die Dickens erzählt: Jung-Pip stammt aus prekären Verhältnissen – viel ärgeren als Marten, das ländliche England im frühen 19. Jahrhundert ist nicht das Offenbach zu D-Mark-Zeiten –, und auch er findet ungesucht und unverhofft einen geheimnisvollen Gönner. Er vermutet wie Marten, dass es die Adoptivmutter der lieblichen, schlimm verzogenen Estella (!) ist. Auch Pip liebt sie und leidet unter ihren Launen und wird durch Fährnisse des Lebens hindurch zu seinem dann doch eher wackeren als gewaltigen Glück finden müssen.
„Große Erwartungen“ ist eine grandiose Folie, die Motive aus „Wovon wir lebten“ zum Leuchten bringt – Kleinigkeiten wie Angewohnheiten, böse Blicke, Berufswahl, Todesursachen, aber auch die Konstruktion als solche, das Epische, das man von Silke Scheuermann bisher überhaupt nicht gewöhnt ist. Aber mehr als eine Folie soll der Roman nicht sein, „Wovon wir lebten“ ist weder eine Nacherzählung noch eine unmittelbare Modernisierung. Nichts ist enthalten, was man nicht auch ohne „Große Erwartungen“ verstehen könnte. Vielleicht ist es übrigens die Figur der Stella, von Scheuermann und Marten als unglückliches Reiche-Leute-Kind gezeichnet, die am ehesten verliert gegenüber dem Original. Und zu fantastisch ist ihre Umgebung in Dickens’ Roman, um das Glashaus der Tante Sternberg als vollwertigen Ersatz zu nehmen.
„Wovon wir lebten“ ist zudem (wieder) ein solider, die Zeitläufte aufmerksam beobachtender Offenbach- und Frankfurt-Roman. Der Trend zum Osten wird literarisch manifestiert. Man kann Marten ins Robert Johnson begleiten und mit ihm ein hippes Restaurant auf der Hanauer Landstraße aufmachen. Auch das drängt sich nicht auf, es ist einfach Martens Welt.
„Es spielen so viele Zufälle, glückliche oder unglückliche, eine Rolle dabei, wie man zu dem wird, der man ist“, überlegt Marten schließlich. Ist das nicht alles zu bescheiden? Überhaupt nicht. Es ist das Leben, wie es in der Literatur nicht häufig Platz gemacht bekommt. Erst recht nicht außerhalb einer wie auch immer gearteten Betroffenheitsliteratur. Darauf, es ist peinlich, das zugeben zu müssen, hampelt auch die „Literaturfrau“ herum.