Kein eigenständiger Zugang

Das Comic "Das Tagebuch der Anne Frank" arbeitet sich an der Vorlage ab ? und tut sich nicht leicht damit.
Anne wünscht sich so sehr eine Freundin. Ein richtige Freundin, der sie sich rückhaltlos anvertrauen kann, denn „niemand kann verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn ganz allein auf der Welt steht. Ich habe liebe Eltern und eine Schwester von sechzehn. Hanneli und Jacqueline gelten als meine besten Freundinnen. Aber eine wirkliche Freundin habe ich noch nie gehabt. Ich habe einen Haufen Anbeter, die mir alles von den Augen ablesen. Es fehlt mir nichts, außer ,die‘ Freundin. Ich kann mit keinem von meinen Bekannten etwas anderes tun als Spaß machen, ich kann nur über alltägliche Dinge sprechen. Ich kann einfach nicht vertrauter zu anderen werden ...“
Anne Frank hatte nie eine wirkliche Freundin
Es ist Freitag der 12. Juni 1942. Anne feiert ihren 13. Geburtstag in Amsterdam. Dorthin ist ihre Familie, die aus Frankfurt stammt, vor den Nationalsozialisten geflohen. Anne ist glücklich, sie hat genau das kleine Notizbuch geschenkt bekommen, das sie ihrem Vater in einem Schaufenster gezeigt hatte. Das Büchlein ist in rotweißen Stoff eingebunden und mit einem kleinen Schloss an der Vorderseite versehen. Der Vater dachte eigentlich an ein Poesiealbum, aber Anne nutzt es als Tagebuch. Noch am selben Tag beginnt sie in niederländischer Sprache ihre Eintragungen. Endlich jetzt hat sie die langersehnte Freundin, der sie alles anvertrauen kann.
Mit den eingangs zitierten Ausführungen beginnt auch der Comic „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Ari Folman und David Polonsky. Schon auf dem Cover lächelt uns das Mädchen an – es hält einen Füllfederhalter in der einen Hand, die andere ruht auf dem rot-weiß-karierten Tagebuch – und sieht ihrem Vorbild, wie wir es von Schwarz-Weiß-Fotografien kennen, ähnlich. Ein aufschlussreicher Hinweis, denn Folman und Polonsky haben sich vorgenommen, dokumentarisch vorzugehen und dem vorliegenden „Tagebuch“ nichts hinzu zu erfinden. Der Comic endet mit Anne Franks letztem Eintrag vom 1. August 1944, drei Tage vor ihrer Verhaftung.
Zur dokumentarischen Anmutung gehören auch die klaren Zeichnungen David Polonskys. Er verwendet Schattierungen eher sparsam, Farbverläufe kommen also nur andeutungshaft vor. Speedlines gibt es gar nicht, Sprech- und Denkblasen immerhin sorgen für einige lebendige Szenen, ansonsten gibt es viel Text mit Tagebucheinträgen, sie sind in die Panels eingeblockt oder füllen ganze Seiten. So verwandeln sich die ohnehin flach wirkenden Zeichnungen in Illustrationen, das heißt: in erläuternde Bilder zur Textvorlage. Zu einem eigenständigen Erzählmedium werden sie dadurch allerdings nicht. Kurzum, dieser Comic steht ganz im Zeichen des historischen Stoffes und nimmt sich kaum Freiheiten.
Von einer Interpretation oder Reflexion des „Tagebuchs der Anne Frank“ in einem anderen, nämlich bildorientierten Medium kann also kaum die Rede sein. Das ist bedauerlich, weil ja die weltbekannte Geschichte der Anne Frank – ihr Tagebuch wurde inzwischen in 70 Sprachen übersetzt und mehr als 30 Millionen Mal verkauft – ja durchaus schon Bilder gefunden hat. Erinnert sei etwa an das Theaterstück der Hollywood-Drehbuchautoren Albert Hackett und Frances Goodrich in den 50er Jahren, aus dem dann der Oscar-prämierte und bildprägende Kinofilm „Das Tagebuch der Anne Frank“ von 1959 entstand. Zahlreiche andere Filme für Kino und Fernsehen sind seitdem erschienen.
Auch in der bildenden Kunst hat Anne Frank ihre Spuren hinterlassen. Der Maler Marc Chagall etwa illustrierte eine limitierte Ausgabe des Tagebuchs. In Japan brachte das bekannte Madhouse Animation-Studio 1995 mit „Anne no Nikki“ sogar einen Zeichentrickfilm heraus, also eine zeichnerische Umsetzung des Themas. Und 2010 schließlich erschien „Das Leben von Anne Frank. Eine grafische Biografie“ (Carlsen Verlag) von Ernie Colón und Sid Jacobson, eine quasi-dokumentarische Umsetzung des Tagebuchs als Comic ... Kurzum, es gibt überreichlich Bilder von Anne Frank, und die Herausforderung für eine grafische Neufassung hätte doch darin bestehen müssen, einen eigenständigen Zugang zu finden.
Tatsächlich haben der Zeichner David Polonsky und der Regisseur Ari Folman mit ihrem Comic „Waltz with Bashir“ – er folgte ein Jahr nach dem gleichnamigen Trickfilm 2008 – auch schon gezeigt, dass sie bildstark und erfindungsreich erzählen können: Comic und Film beschäftigen sich ebenfalls mit einem schwierigen Thema, nämlich der Traumatisierung Folmans als israelischer Soldat im Ersten Libanonkrieg 1982.
Warum gelingt das nicht beim „Tagebuch der Anne Frank“? Ob sie der Stoff eingeschüchtert hat? Als der Fonds Anne Frank in Basel jedenfalls bei ihnen anfragte, das Tagebuch zu adaptieren, so erzählten Folman und Polonsky unlängst bei einer Pressekonferenz in Paris, „war unsere erste Reaktion: ,Auf keinen Fall!‘“
Dabei zeigt ihr Comic interessante Ansätze. Sie arbeiten anschaulich den Humor Anne Franks heraus, ihren neunmalklugen Sarkasmus, aber auch für die Verzweiflung und Alpträume des Mädchens finden sie eindrucksvolle Bilder. Da marschieren schwarz-graue Nazi-Kohorten auf, färben sich Seiten-Tableaus blutrot – hier riskiert der Comic einige Ausflüge in fantastisch-schaurige Vorstellungswelten. Und mit ihnen hört er auch auf. Es folgen einige Seiten der Erläuterung: 1945 starb Annelies Marie Frank im KZ Bergen-Belsen, zwischen Februar und März. Das Lager wurde am 12. April von britischen Truppen befreit.
Von ihrer Familie überlebte nur der Vater Otto Frank den Holocaust.