Katte und wie er die Welt sah

Michael Roes erzählt in „Zeithain“ von dem Leutnant, der als Freund des späteren Friedrich des Großen zu trauriger Berühmtheit gelangte.
Es war für Generationen von Deutschen eine Kindererschreckgeschichte, dass Kronprinz Friedrich am 6. November 1730 dabei zusehen sollte, wie sein Freund Hans Hermann von Katte hingerichtet wurde. Geköpft wurde, muss man dazu sagen. Hans 26, Fritz 18. Möglicherweise verlor Friedrich vor der eigentlichen Exekution auch bereits das Bewusstsein.
Man kann wohl auch sagen, dass in Familien, in denen diese Geschichte erzählt wurde, dies noch bis in die 1950er Jahre hinein nicht selten mit einem belehrenden Impuls in folgende Richtung geschah: Durch dieses schlimme Ereignis, selbst verschuldet von den leichtsinnigen jungen Männern, die womöglich in einem unaussprechlich skandalösen Verhältnis zueinander standen – der Verführer selbstredend: Katte, Katte allein – und sich hatten davon machen wollen, sei Friedrich letzthin gereift. So sehr gereift, dass er schließlich und bekanntlich zu Friedrich dem Großen wurde. Eine furchtbare Schule, aber insofern womöglich eine notwendige, zumal auch der strenge Zuchtmeister viele deutsche Generationen lang über alle Zweifel erhaben war: Der Vater Friedrichs selbst, der Soldatenkönig, der sich ja seinerseits am wenigsten schonte. So erzählt es uns nun auch Katte: Dass man als unglücklicher, gedrillter, gelangweilter, ewig eingesperrter preußischer Soldat nicht einmal seinen Hass auf den König lenken konnte, denn „wie soll man ihn hassen, wenn er sich doch selbst am unbarmherzigsten allen Unbilden aussetzt ...“.
Später stellte sich das natürlich anders dar. Patriarchale Gewalt, die Tabuisierung von Homosexualität und das Auf-Linie-Bringen junger Menschen insgesamt sind aber weiterhin relevante Themen. So haben auch Friedrich und Katte ihr Nachleben unter veränderten Vorzeichen, trotzdem scheint der Berliner Schriftsteller Michael Roes, 1960 in Westfalen geboren, der erste zu sein, der sich in einem sehr umfangreichen historischen Roman ganz auf den Leutnant konzentriert. Der spätere Monarch bleibt eine wenig interessante, vor allem gänzlich uncharismatische Nebenfigur.
Dieser Eindruck ist umso intensiver, als Roes eine extrem unpolemische Perspektive wählt und diese Perspektive mit Glaubwürdigkeit und Sogkraft ausstatten kann. Katte selbst ist der Erzähler, ein nüchterner, nicht sehr gebildeter, zeitgebundener. Aus der Tatsache, dass er das ihm auferlegte Leben in weiten Teilen verabscheut, kann er als Kind seiner Epoche keine Schlüsse ziehen und tut es auch nicht.
Er registriert die Fremdheit gegenüber dem strengen, kalten, als lieblos empfundenen Vater – „Alles atmet, obwohl er abwesend ist, seine Gegenwart“ –, die Schikane in der Unterrichtsanstalt, die Menschenschinderei beim Militär, die Ungerechtigkeit des Königs. „Unbändige Wut und Gewalt“ erhitzt den Raum, wenn dieser über seine Kinder herfällt in Szenen, die sich kein Mensch vorstellen kann, die aber bezeugt sind. Zugleich sieht Katte keine Wahl für sich, auch keine für Fritz, den er von seinen Fluchtplänen abzuhalten versucht.
„Zeithain“ heißt der Roman nach einem der Schauplätze: Bei einem monströsen, ewig langen preußisch-sächsischen Manöver an diesem Ort kommt es zu den Eskalationen, die Friedrichs Fluchtplan dramatisch vorantreiben. Dass man sich im Roman gewissermaßen in einem Zeithain bewegt, in dem Vergangenheit und Gegenwart still und wie selbstverständlich aneinanderstupsen, gibt dem Titel zusätzlichen Reiz. Zumal sonst auch einer der anderen Ortsnamen in den Kapitelüberschriften titelgebend hätte wirken können. Die Stationen in Kattes kurzen Leben – jenseits der Kavalierstour kommt er aus der Provinz, zu der damals auch Berlin gehörte, nicht heraus – sind jeweils prägend und schicksalsverhangen. Ein preußischer Junkerssohn soll nicht glücklich sein, er soll zum Militär. Bei einem Besuch bekommt er ein Bild des flämischen Meisters Simon de Vos zu sehen. „Von einem Maler dieses Namens habe ich nie gehört, doch wächst in mir die Ahnung, dass ich vom größten und womöglich besten Teil der Welt noch nichts vernommen.“
Roes gelingt also das Kunststück, Katte eine ihm adäquate, jedenfalls eine von ihm und seiner Erzählerposition überzeugende Sprache zu geben. Nüchtern wie er selbst, dabei aufmerksam beobachtend, wobei Katte selbst nicht registriert, wie empfindsam er ist. „Zeithain“ ist eine Autobiografie in tagebuchhafter Echtzeit, selten aber atemlos. Katte beschreibt Menschen ausführlicher als eigene Gefühle, aber eigene Gefühle auch. Er hat einen Blick für Szenen. Er bekommt von seinem Autor kein historisches Sprachkolorit mit, aber auch kein modernes. In keiner Zeile wird er zu einer modernen Figur stilisiert.
Rar sind die Momente des Glücks. Dazu gehört, dass Katte in der Lage ist, Freundschaften zu schließen. Dazu gehört – eine wunderbare Szene –, dass die in England lebende und höchst liberal eingestellte Tante den jungen Mann auf Kavaliersfahrt offenbar unaufdringlich, aber versiert in ein Londoner Milieu einführt, in dem er seine Homosexualität ausleben kann. So kommt es dann auch Abend für Abend. Katte tut, was ihm gemäß ist, er weiß interessanterweise auch, was ihm gemäß ist. Weder denkt er darüber nach, noch plagen ihn Schuldgefühle.
Roes, könnte man meinen, würde hier doch diskret modernisieren, aber das instinktive Wissen um die eigenen Bedürfnisse erscheint vielmehr als zeitlose Größe. Darüber, dass er sich dabei auf einer Art Straßenstrich bewegt, beschäftigt Katte im Übrigen nicht. Ein klares Oben und Unten bestimmt seine Welt. Dass er zu Hause auf dem platten Land mit der Dorfjugend gespielt hat, weiß er ohne innere Konflikte davon zu trennen.
Roes hat die Erzählperspektive so gut im Griff, dass er ihn sogar Wilhelm Müller (aus der „Winterreise“) zitieren lassen kann, ohne dass es stört (Müller wurde erst Jahrzehnte später geboren). Der Autor hat sich auf Katte und seine Zeit eingependelt, aber nicht im äußeren Gewand einer opulent fremdartigen Sprache, sondern auf einer tieferen und wahrlich fesselnderen Ebene. Die sofort funktionieren würde, aber das darf sie nicht.
Denn eines ist nun eigenartig. Während Roes so einfach – gewiss nach immenser Recherche- und Planungsarbeit – dokumentiert, dass der historische Roman lebt und eine ferne Epoche mit Lebensumständen, Gerüchen, Dreck, der Allgegenwart des Todes (es wird viel gestorben, sehr jung gestorben) ganz problemlos einem Lesenden aus unserer Zeit vermitteln kann, scheint der Autor selbst dem zu misstrauen. Und sorgt für weitere Handlungsebenen, als würde ihm etwas fehlen. Es gibt einen jungen Erzähler von heute, Philip Stanhope, Nachfahre jener Tante Kattes. Er findet im Walnusssekretär seines Vater die Korrespondenz zwischen Hans und ihr. In den üppig barocken Briefen ist Katte auf einmal viel weiter entfernt.
Dieser Teil wäre noch eine reizvolle Ergänzung – während die Literatur Nähe anbietet, sorgt die „historische Quelle“ (sei sie noch so fiktiv) für Entfremdung. Bedauerlicher ist, dass Roes dem jungen Stanhope, drogenerfahren, in postpubertären Wallungen – und auch er ist homosexuell –, so oft häufig das Feld überlässt. Stanhope macht sich auf die Reise, Kattes Spuren zu folgen. Er erlebt die Orte selbstverständlich anders. Er reicht Reflexionen nach, die Katte, in seiner Situation gefangen, nicht bietet. „Warum diese Suche, diese Rekonstruktion? Glaube ich wirklich, dass die Menschen der Vergangenheit nicht wesentlich anders waren als wir heutigen? Dass ich mühelos dreihundert Jahre überspringen und mit ihnen reden, feiern, leiden kann, weil wir die tieferen menschlichen Erfahrungen miteinander teilen?“ Na ja, wir erleben es auf hunderten Seiten ja gerade.
„Zeithain“, stark im Erzählen und eben gerade im Nichtreflektieren, Nichterläutern, Nichteinordnen, bricht mit Kattes Tod jäh ab. So muss es sein, denn „die Kälte des Stahls gehört schon nicht mehr meiner Welt an“. Da begreift man auch mit Wucht, dass man 800 Seiten lang einem Toten zugehört hat.