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Karl Ove Knausgård: „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ – Das letzte Aufflammen

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Von: Marcus Hladek

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Karl Ove Knausgård. Foto: Sølve Sundsbø
Foto von Karl_Ove Knausgard © Sølve Sundsbø

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“: Wo will er hin, Karl Ove Knausgård, mit seinem apokalyptischen „Morgenstern“-Zyklus?

Er habe so etwas wie Schauerliteratur schreiben wollen, verkündete der Norweger Karl Ove Knausgård 2022 auf Lesetour im Schauspiel Frankfurt. Nun ist Band 2 des „Morgenstern“-Romanzyklus erschienen, „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“. Er faltet die apokalyptische Motivik noch ausführlicher auf.

Genregetreu hängen gefrorene Leichen kopfüber in russischen Kryo-Tanks und klopfen an die Wände. In der Bestattungsfirma Syvert Løynings, der als Hauptfigur gelten darf, die Sympathien beim Lesen aber nur stockend auf sich zieht, bleiben 2020 unter dem Morgenstern die Leicheneingänge aus. Ein Großteil des Geschehens spielt freilich 1986, als Tschernobyl in die Luft fliegt, was den frisch aus der Marine entlassenen Syvert (wie die Strahlungseinheit Sievert) so beunruhigt, dass er obsessiv über Radioaktivität und inneres Feuer nachdenkt. Der Morgenstern hängt dann nicht mehr nur über Norwegen, er ist auch über Moskau und die Wolga verhängt: eine riesige Sonne über dem Schnee, die sämtliches Licht aufsaugt und „ein letztes Mal über der Welt aufzuflammen“ scheint.

Begleitet wird dieses kosmische „Die Welt ist aus den Fugen“ erneut von Tier- und sonstigen Auftritten, zumeist zu dreien: drei Krähen, Vögel, Hirsche oder auch „drei mystische Männer“. Syverts Bruder Joar, der Astrophysiker wird und dem ganzen Land vom neuen Stern erzählt, obwohl er ihn vor Syvert bloß „ein Wunder“ nennt, erschießt zudem einen Raben: ein Vogel Gottes? Joar glaubt nicht an Gott (nur an unheilvolle schwarze Katzen). Als am Ende Bankräuber Moskauer Passanten erschießen, die sich weigern zu sterben, tragen sie Tiermasken.

Schauer- und handlungsmäßig ist also viel los. Oder sind es nur bunte Lichter am kleinteiligen Einherplätschern? Die Lesespannung hält Knausgård mit sprachlichen Mitteln aufrecht, nicht per Handlung, deren Stränge 827 Seiten brauchen, bis sie konvergieren. Wer sich Notizen macht, hält am Ende ein grau-in-graues Wimmelbild mit wenigen bunten Tupfern in Händen.

Deutlich mehr Energie fließt zum Glück in die Konstruktion. Berühmt durch seine autofiktionelle Romanreihe „Kämpfen“, eröffnete Knausgård mit „Morgenstjernen“ 2020 eine Romanreihe voller Anspielungen auf die biblische Apokalypse in Zeit und Raum von heute. „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ läuft jetzt als Prequel voraus. Aus zuvor neun Ich-Erzählern und -Erzählerinnen nebst Essay an einer Handvoll Hochsommertage am Fjord werden in Band 2 fünf plus Essay in zeitlicher Abfolge: ein grenzüberschreitender Zeitpfeil, der die Apokalypse rückläufig herleitet und kontextuell vertieft.

Das Buch

Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit. Roman. A. d. Norweg. v. Paul Berf. Luchterhand, München 2023. 1056 S., 30 Euro.

Lautete das Motto zuvor: „Sie werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen“ (Johannes 9:6), so bemüht „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ direkt die Apokalypse: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen“ (Offenbarung 21,4). Niemand aber muss daran glauben. Knausgårds Schreibhaltung scheint die eines aufgeklärten Norwegers, der immerhin den Phantomreiz eines Jahrtausends kirchbankdrückender Vorfahren in den Knien hat. Von der „Offenbarung“ mit den sieben Endzeitvisionen bleiben ein besonderer Stern und tödliche Hitze, Tiersymbolik, Totenerweckung, die Abrechnung am Ende der Zeit und – Bäume übrig.

Dem Prolog einer Randfigur im Jahr 1977 schließt sich der Zeitraum 1986 an, gefolgt vom „Morgenstern“-Jetzt. Ein Essay der Ich-Erzählerin Vasilisa und verstreute Passagen verknüpfen das Apokalyptische auch mit Sowjetrussland und Ideen Nikolai Fjodorows. Der hatte zu Zeiten Tolstois eine allgemeine Totenerweckung mittels Wissenschaft gefordert, was im Russland der 1920er dann krude wissenschaftliche Experimente anregte, die den Tod besiegen sollten. Wer davon liest, wie abgetrennte Hundeköpfe am Leben erhalten und Bluttransfusionen genutzt wurden, um Menschen zu verjüngen, wähnt sich bei „Frankensteins Monster“. Knausgård interessiert daran, dass die leibliche Auferstehung aus der rational gewordenen Religion verschwunden scheine, während die Wissenschaft sie im Klonen, der CRISPR-Technik, der gentechnischen Alternsforschung neuentdecke.

Nun ist „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ein Stück Fiktion, das auf Konventionen wie aufgefundene Briefe und die Vereinigung getrennter Menschen baut. Sein Unfalltod im Prolog hindert Syverts Vater daran, die Familie zu verlassen und mit der Geliebten aus Russland (er ist reisender Ingenieur, oder etwa doch Spion?), Vasilisa, eine neue zu gründen. Beide Frauen leiden. Jahrzehnte später findet Syvert infolge eines Traums Vasilisas Briefe und lässt sie übersetzen, reist noch später nach Moskau und trifft seine Halbschwester Alevtina. Nicht alle, die erzählen, sind wichtige Figuren, und nicht alle wichtigen Figuren erzählen.

Viel Gewicht wächst der Ich-Erzählung Alevtinas zu, die von der Forschung zur Kommunikation der Bäume per Wurzel- und Pilzgeflecht berichtet. Als Vasilisa Magic Mushrooms einnimmt und die Bäume sprechen hört, gibt sie die Doktorarbeit auf. Möglich, dass Knausgård das Thema bei Peter Wohlleben oder der Kanadierin Suzanne Simard vorfand und direkt aufgriff, was als Recherchemethode leicht blutarm wäre. Auch das titelgebende Zwetajewa-Zitat („Wie man den Wolf auch füttert – er schaut immer zum Wald. Wir alle sind Wölfe des Urwalds Ewigkeit“) verknüpft Wald, Zeit und Unsterblichkeit.

Was das Apokalyptische Knausgård eigentlich bedeutet, bleibt auf nunmehr 1940 Seiten weiterhin vage. Sollte die hohe Idee der Auferstehung in niederer Genreform ein beliebiger Platzhalter am Zielpunkt eines formalen Akts der Spannungsbündelung sein: seine Version eines „MacGuffin“, um Hitchcocks Begriff zu bemühen? Dann bliebe die Lektüre ein l’art pour l’art ohne Wolfsbiss in Realien, die den Aufwand lohnen. Es geht auch anders: Wladimir Sorokins Roman „Ljod. Das Eis“ ist noch fantastisch-metaphysischer, liest aber die ganze Sowjetgeschichte in einen Genre- und Mentalitäts-Alptraum um. Verglichen damit bliebe das halluzinierte Kirchenbankdrücken via Apokalypse bei Knausgård allzu leichenblass. Die Auferstehung bleibt Band 3 vorbehalten.

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