Julia Franck zu „Welten auseinander“: „Schreiben ist das Instrument, um die Scham zu überwinden“

Julia Franck hat viele Jahre an ihrem sehr persönlichen Buch „Welten auseinander“ gearbeitet: Ein Gespräch über autofiktionales Schreiben, ein Leben ohne Vater, Schuldgefühle und biografische Zuschreibungen
Frau Franck, warum hat es zehn Jahre gedauert seit Ihrem letzten Buch?
Gute Frage. Die Antwort passt nicht in zwei Sätze.
Haben Sie so lange daran geschrieben?
Ich hatte mit ganz anderen Romanen angefangen, ich habe sogar dieses Buch in drei Versionen geschrieben. Zwischendurch habe ich ein paar Semester Medizin studiert und zum Beispiel ein Praktikum im Botanischen Garten gemacht. Ich glaube, dass dieses Buch nicht diese zehn Jahre brauchte, aber es brauchte mein Älterwerden.
Sie schreiben aus der Position des jüngeren Ichs: Ich habe keine Sprache dafür. Mussten Sie erst die Sprache finden?
Ich musste dafür älter werden, weil es Erfahrungen berührt, die aufzuschreiben mir lange unwahrscheinlich schwer gefallen ist.
Sie lassen uns diesmal nah an sich heran. Der erste Satz lautet allerdings: „Auch in meinem wirklichen Leben habe ich eine Mutter, vier Schwestern und Freunde, die ich liebe.“ Ist es ein Roman?
Wir hatten im Verlag überlegt, wie ordnen wir es ein. Es sollte nicht das Wort „Roman“ vorn stehen, doch in der literarischen Sparte bei S. Fischer erscheinen. Wenn es dann doch jemand Roman nennt, ist es gar nicht so verkehrt.
Wegen der Distanzierung zu Beginn?
Dieser Prolog sagt vor allem etwas darüber aus, dass ich mich für dieses Buch sehr, sehr viel mit der Bildung von Erinnerung beschäftigt habe. Und mit der Veränderung von Gedächtnis. Es gibt Dinge, die können wir nicht erlebt erinnern, aber sie sind anhand von Dokumenten vorhanden. Da sind die Tagebücher meines Vaters, auch meine eigenen. Als ich die wieder las, entdeckte ich Dinge, die ich so gar nicht in Erinnerung hatte.
Sie erzählen als Ich. Warum heißt es manchmal „das Mädchen“ – sind das Momente, die Ihnen heute fremd erscheinen?
Ja. Das Motiv der Fremdheit sich selbst und anderen gegenüber wird in dem Buch vielseitig behandelt. Da geht es auch um meine Großmutter und ihre Stasi-Verbindungen, über die sie nicht sprechen wollte. Ich musste diese Akten lesen, um zu erfahren, in welcher Weise und in welchem Zeitraum sie mit denen zusammengearbeitet hat. Doch lässt das eine Menge Deutungsspielraum, wie wir von vielen wissen, die mit der Stasi kooperiert haben und sich selbst nicht in den Akten wiedererkennen. Hier sind wir wieder bei der Erforschung des Erinnerns, das mir so wichtig ist, neben dem zentralen Motiv des Verlusts von Menschen und von dem, was man so oberflächlich Herkunft oder Identität nennen würde. Identität ist ja ein fragwürdiges Konzept, das der lebenslangen Entwicklung und Veränderung eines Ichs entgegensteht.
Haben Sie überlegt, was man nun über Ihr Umfeld denken kann?
Entlang der geschilderten Erfahrungen über die Generationen muss man sicherlich über Moral und Rollenerwartungen an Frauen nachdenken. Auch meine Großmutter und Mutter wurden auf ihre Weise geprägt von den Verhältnissen, in die sie geboren waren. Meine Großmutter hatte wegen der Rassengesetze den Vater meiner Mutter und ihres Bruders nicht heiraten dürfen. Der ist noch im März 1945 in den Krieg gezogen und direkt erschossen worden. Sie hat versucht, ihn nachträglich als Ehepartner anerkennen zu lassen. Sie wollte nicht in der Nachkriegszeit allein mit zwei unehelichen Kindern dastehen und immer noch nur die Jüdin sein. Sie musste viel arbeiten, um als Künstlerin akzeptiert zu werden. Für meine Mutter und ihren Bruder war das keine leichte Kindheit.
Zumal sie keine liebevolle Frau war.
Aber sie war, und ich hoffe, dass das deutlich wird im Buch, eine sehr emanzipierte, kämpferische Frau, ja, eine politische, begeisterungsfähige.
Und der Anker der Familie.
Das Zentrum würde ich sogar sagen. Ihr Verantwortungsgefühl für uns ging so weit, dass sie nach der Ausreise für uns Päckchen nach Schleswig-Holstein schickte und nicht andersherum.
Sie sind als 13-Jährige zu Freunden der Familie nach West-Berlin gegangen. Als Kind! Ist Ihnen bewusst, dass Ihre Geschichte stellenweise unglaublich wirkt?
Deshalb lasse ich es möglichst uninterpretiert stehen, weil es sich um die Wirklichkeit handelt. In fiktionaler Weise habe ich über viele dieser Dinge schon geschrieben. Zum Beispiel gab es das Motiv des Verlassenwerdens, Zurückgelassenwerdens, was auf uns zutrifft, schon bei meinem Vater. Er wurde als Kind von seiner Mutter ausgesetzt, sie ließ ihn an einem Bahnsteig zurück.
Davon schreiben Sie in der „Mittagsfrau“, dem Roman, für den Sie den Deutschen Buchpreis bekamen.
Ich glaube, diese Reflexion über die Wiederholung von Erfahrungen in anderen Kostümen und aus unterschiedlichen Gründen kann man wahrscheinlich nur rückblickend aus der dritten, vierten Generation machen.
Fühlen Sie sich Annie Ernaux nahe, die so schonungslos über ihre Jugend in den 50er Jahren schrieb?
Die französischen Erzähler wie Ernaux und Édouard Louis fallen einem jetzt zuerst ein. Aber das autofiktionale Erzählen ist nicht neu, das nannte man vorher nur nicht so. In der deutschsprachigen Literatur schrieb Peter Handke früh über seine Mutter, mit „Kindergeschichte“ dann ein Buch über sein Vaterwerden. Damals wurde darüber diskutiert, wie es ist, über lebende Figuren zu schreiben. Heute ist man noch viel aufmerksamer in der Frage, wessen Geschichte dürfen wir wann überhaupt erzählen?
Haben Sie mit Ihrer Mutter über das Buch gesprochen?
Ja, und als sie sich für mich freute, sagte ich ihr warnend, dass sie es nicht unbedingt lesen muss. Obwohl das zwischen uns längst alles ausgesprochen ist. Ich empfinde das Buch nicht als Vorwurf an sie, eher als eine transgenerative Erzählung der sehr schwierigen Verhältnisse. Wenn man es sich formal oder motivisch ansieht, dann ist vielleicht das Gegenüber, dem ich meine Geschichte erzähle, Stephan, mit dem das Buch beginnt und endet. Obwohl ich auch von ihm nicht alles erzähle, bestimmte Dinge darf man wohl nur von sich selbst erzählen.
Zur Person:
Julia Franck, 1970 in Ostberlin geboren, kam als Achtjährige mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern – eine davon ihr Zwilling – nach Westdeutschland. Die Familie zog vom Notaufnahmelager Marienfelde schließlich aufs Land nach Schleswig-Holstein. Als 13-Jährige ging Julia Franck alleine nach Westberlin, wo sie Abitur machte und studierte.
Mit ihrem Roman „Die Mittagsfrau“ gewann Franck 2007 den Deutschen Buchpreis. Zuvor „Lagerfeuer“ und danach „Rücken an Rücken“ fanden ebenfalls ein großes Publikum. Nach langer Pause folgt „Welten auseinander“, ein Buch, das radikal persönlich und aufwühlend wirkt und zugleich Rückschlüsse auf die Zeit zulässt, die 70er und 80er Jahre in einem geteilten Land.
Während der Frankfurter Buchmesse liest Julia Franck u.a. bei der Literatur im Römer (21. Oktober, gegen 21.30 Uhr) und bei Open Books (22. Oktober, 16 Uhr, Katharinenkirche).
Das heißt: Mit einem Schriftsteller in der Verwandtschaft lebt man gefährlich?
Dem Wunsch, die Erfahrung aufzuschreiben, liegt im Spagat gegenüber, worüber ich schweigen werde.
Ihr junges Ich empfindet Scham, über das Zuhause zu sprechen. Ist die nun vorbei?
Das Instrument des Überwindens der Scham ist das Schreiben. Das sind die kleinen Details, wie die Warzen an den Händen und die schmutzigen Ärmel, die unordentlichen Verhältnisse. Diese Scham, ein uneheliches, vaterloses Kind zu sein, hatte meine Mutter seinerzeit sicher stärker empfunden.
Einmal fliehen Besucher, die über Nacht bleiben wollten, regelrecht aus dem Haus. Der kleine Perspektivwechsel zeigt neben der Scham das Ausmaß dessen, aus dem sich die Erzählerin befreit und die Schwestern zurücklässt.
Die Schuldgefühle sind auch ein wichtiger Punkt. Ich kam nach Berlin mit dem Gefühl, ich lasse meine Schwestern im Stich.
Das spiegelt sich auf unheimliche Weise später im Verhältnis zum Vater, sehe ich das richtig?
Er war selber ängstlich und einsam. Er lebte sein Leben, als wäre es erst die Generalprobe. Es ist so bitter für ihn gewesen, als er im Sterben lag. Haben Sie gesehen, dass es eine längere kursiv gesetzte Passage gibt? Die könnte Ihren Kindern auffallen.
Meinen Kindern?
Es ist die Kurzgeschichte „Streuselschnecke“, die in meinem Buch „Bauchlandung“ enthalten war. Seit Jahren wird sie in den 9., 10. Klassen in der Schule gelesen. Man hat sie wohl in die Lehrbücher aufgenommen, weil sich darin diese Fremdheit in der Beziehung deutlich zeigt. Es gibt ja heute viele Kinder, die ihren Vater kaum kennen.
Wie alt war er, als er starb?
49. Als meine Zwillingsschwester und ich uns zu unserem 50. Geburtstag anriefen, sagten wir das: Nun sind wir älter als er. Das gehört zur Frage, wann so ein Buch geschrieben wird.
Nach der engen Kindheitsbeziehung zu ihr kam die Bindung an das Tagebuch. Wurde das Schreiben Ihre Heimat?
Ich glaube schon, dass das Schreiben meine lebenswichtige Beziehung ist, in vielerlei Hinsicht. Ich habe sehr enge Freundschaften, manche schon über Jahrzehnte. Doch bin ich auf merkwürdige Weise ein allein lebender Mensch geblieben – mit meinen Kindern. Die brauchen eine ganz andere Art der Beziehung, die ist schön und harmonisch. Auch sie sind ein Grund, warum ich zehn Jahre nicht veröffentlicht habe.
Wieso?
Als sie klein waren, kamen relativ viele Bücher kurz hintereinander heraus. Aufgrund von Veranstaltungen, Lesereisen, Buchpublikationen im Ausland war ich dann oft ein Viertel des Jahres nicht zu Hause, sodass ich den Kindern gegenüber ein immer schlechteres Gewissen hatte. Von der Öffentlichkeit des Berufes ging eine so große Unruhe aus, dass ich mir sagte, ich kann ja weiter schreiben, aber ich muss es nicht veröffentlichen.
Die Künstlerkreise, die Sie schildern, bestehen fast ausschließlich aus Leuten, die aus der DDR ausgereist waren. Ich musste an Thomas Brasch denken: Wie kommt es, dass so viele, die den Osten verließen, doch daran hingen?
Menschen wie meine Mutter, wie das Paar, bei dem ich wohnte, wie andere Freunde, die in den 70er Jahren ausreisten, waren keine Wirtschaftsflüchtlinge. Sie kamen aus dem intellektuellen Milieu Ost-Berlins oder Leipzigs in dem Wunsch, ihrem Beruf frei nachzugehen. Sie hatten nicht das Verlangen nach Autos oder Jeansmarken. Diese Produktwelt spielte im Osten keine Rolle im Verhältnis zu bestimmten Büchern, die man unbedingt lesen und schreiben, Theaterstücke, die man inszenieren und sehen wollte.
Haben Sie überlegt, was passiert wäre, wenn Ihre Mutter nicht mit Ihnen in den Westen gegangen wäre?
Die Aussichtslosigkeit für eine Frau mit vier Kindern, eine Arbeit zu finden, hätte es in der DDR nicht gegeben. Und wenn man sich heute anschaut, wer die Armen in der Gesellschaft sind, sind das größtenteils alleinerziehende Frauen und ihre Kinder. In der DDR gab es dafür andere Restriktionen, wie wir wissen. Aber in der Frage steckt schon eine Zuschreibung.
Sie meinen, dass ich auf Ihre Herkunft anspiele?
Weil ich es nicht so eng fassen will. Viele Menschen haben in der Pubertät Scham erlebt. Sich später damit auseinanderzusetzen, heißt auch, sich den Identifizierungen zu entziehen. Es gibt heute unglaublich viele Zuschreibungen, als Ostlerin, als Arbeiterkind – wobei das schon auf Klassenbewusstsein hinweisen würde, früher sagte man Sozialhilfeempfängerin, heute gibt es das sogenannte Prekariat. Welches Konzept birgt das? Es befindet sich jenseits aller Klassen.
Sie sind ja keine ostdeutsche Autorin.
Und ich bin keine westdeutsche Autorin. Ich bin weder die Berlinerin noch das Provinzkind. Ich komme weder aus dem Arbeiter- noch aus dem bildungsbürgerlichen Milieu. Diese Label von Identitäten funktionieren nicht für ein Leben, weil es sehr viel mehr Zwischentöne kennt.
Sie sagten anfangs, Sie hätten drei Versionen des Buchs geschrieben. Ist das jetzt die richtige?
Eines Tages dachte ich, dass ich wahrscheinlich bis ans Lebensende in immer weiteren Varianten schreiben würde, wenn ich nicht zuletzt die Entscheidung treffe, dass es so erscheint. Denn das ist natürlich nicht die einzige Form, meine Geschichte zu erzählen.
Interview: Cornelia Geißler