Judith Zander „im ländchen sommer im winter zur see“: Melusine weiß Bescheid

Auf unterschiedlichsten Tonspuren: Judith Zanders Gedichtband „im ländchen sommer im winter zur see“.
Die schöne Melusine, so erzählt ein mittelalterlicher Mythos, ist eine Wasserfee, die sich an manchen Tagen mit einem Schlangenleib versieht und den sie begehrenden Rittern ein Betrachtungstabu auferlegt. Ihre wahre Gestalt bleibt dem männlichen Blick verborgen. Nun hat die Erzählerin und Lyrikerin Judith Zander in ihrem neuen Gedichtband „im ländchen sommer im winter zur see“ den Melusine-Mythos wieder aufgegriffen: im Gedicht „entwicklung“ wird sie zur Kronzeugin einer weiblichen Selbstverständigung.
Judith Zander, das hat sie in ihren bisherigen Gedichtbänden und zuletzt dem Roman „Johnny Ohneland“ bewiesen, ist eine Autorin, die mit großer Kunstfertigkeit den Fundus der antiken und mittelalterlichen Mythologien nutzt, um daraus Stoffe für ihre Poetik der Selbstbehauptung zu gewinnen. Der neue Gedichtband betreibt nun ein anmutiges Vexierspiel mit Motiven der Liebeslyrik, des Minnesangs und der barocken Vergänglichkeits-Topik, um die Lebensbewegung und die Sehnsuchtslinien („desire lines“) zweier Liebender vorzuführen.
Das Buch:
Judith Zander: im ländchen sommer im winter zur see. Gedichte. Mit Fotografien der Autorin. dtv, München 2022, 96 S., 20 Euro.
Der hohe Sommerhimmel und das Licht einer Küstenlandschaft, in dem sich hier das weibliche Ich und ein ebenso feminines Du bewegen, verwandelt sich dabei mitunter in ein dystopisches Gelände, bedroht von Versanden und Auszehrung. Bereits im Eröffnungsgedicht „traute“, ist das „nachsommerland“ der beiden Liebenden von „dürre“ bedroht. Auch hier taucht Melusine auf, als „eine/ahnfrau die bescheid weiß“ und der als Sprachform das „Missingsch“ zugeschrieben wird, ein Gemisch aus Plattdeutsch und Hochdeutsch. Deutlich wird hier die Passion der 1980 in Anklam in Vorpommern geborenen Autorin für das Plattdeutsche und seine Schnoddrigkeiten, das in einzelnen Zeilen signalhaft aufblitzt.
Die Suchbewegung der beiden vagabundierenden Gedicht-Protagonistinnen führt durch Dünen- und Strandlandschaften an der Ostsee, sie durchstreifen auch Randgebiete in der brandenburgischen Provinz. In einigen Gedichten wird die DDR-Topographie explizit markiert: „einmal quer durch die ddr beim zeus!/ kamst du nicht direkt lang wo der Park/ mit den Wald du weißt schon oder erst/ einmal ist gereimt meist geschummelt der länge nach/ gerade unziemlich durchmessen die grade kamst du/ hier an ein freundlicher empfang am rande der bemannten welt ...“.
Am stärksten ist Zanders Poesie, wenn sich die Autorin bei der Konturierung von Existenz-Augenblicken unterschiedlichster Tonspuren der poetischen Tradition bedient. So skizziert das Gedicht „konserve“ zunächst nur eine idyllische Disko-Szene, bis sich die Verse dann mit Anspielungen auf Hölderlin, Wilhelm Müllers „Winterreise“ und Gianna Nannini, mit einem prominenten Bibel-Zitat und schließlich mit einem Kulthit der DDR-Band Silly aufladen. Die konsequent eingesetzte Verssprung-Technik, mit der Zander ihre Gedichte in Bewegung hält und für formale Unruhe sorgt, steht in auffälligem Kontrast zur ruhigen Symmetrie der Fotografien, die den Gedichten zur Seite gestellt sind.
Damit bei ihrer Erkundung einer fragilen Liebesgeschichte nicht zu viel Pathos aufkommt, hat die Autorin reichlich Selbstironie in ihre Verse eingestreut: „Mein kompass zeigt immer noch/ irgendwohin und der bodden wirft/ mir den zander nicht weißgekocht/ an land alles muss man / nach wie vor selber machen.“ Das ist auch als programmatisches Statement zu verstehen. Flüchtige Lektüre hilft bei diesen kunstvoll gefügten Gedichten nicht weiter, Betrachtungsgeduld ist hier Teil des Lesevergnügens.