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Von jenen erzählen, die zwischen den Stühlen sitzen

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Von: Reinhart Wustlich

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Juan Goytisolo 2015 in der Nationalbibliothek in Madrid.
Juan Goytisolo 2015 in der Nationalbibliothek in Madrid. © epa

Zum Tod des spanischen Schriftstellers und kritischen Vermittlers Juan Goytisolo.

Er konnte dazu einladen, die Dinge anders zu sehen. Juan Goytisolo. Er konnte in Quartiere und Landschaften begleiten, deren Bedeutung sich erst auf den zweiten, den dritten Blick erschloss. La Chanca, das arme Barrio am Fuße der Alcazaba, der maurischen Festung über dem spanischen Almería, das von der Terrasse des Mesón Gitano zu überschauen ist. Die Landschaften des „afrikanischen Spaniens“, die „Campos de Níjar“, aus der die Armut in den 1950er Jahren jene zackigen Exemplare der Guardia Civil vertrieben hatte, die Goytisolo in seiner Heimat Barcelona aufgefallen waren: die Landschaften zwischen dem Cabo de Gata, den Gruben von Rodalquilar und Carboneras. Er wollte wissen, was es bedeutete, dort LKW-Fahrer zu sein, Agaven zu kultivieren, Kaktusfrüchte zu sammeln, Espartogras zu lesen, um daraus Matten zu flechten.

Juan Goytisolo beschrieb die Lebensbedingungen der Migranten, der Einwanderer und Illegalen aus dem Maghreb und Schwarzafrika in „El Ejido“ (2000), den Terrassenlandschaften unter Plastikplanen westlich von Almería, die sich seither nach Osten bis an die Ränder des Nationalparks Cabo de Gata Níjar ausgebreitet haben. Dort wurde die modernste Form des Obst- und Gemüseanbaus unter Folienzelten erfunden – ein „äußerliches Paradies – im Inneren war es die Hölle, zumindest für die Immigranten“.

Mit der Empathie für den „Anderen“, gespeist durch die Erfahrungen der eigenen Emigration nach Frankreich – als Vertreter der Künstler-Generation, die im Widerstand gegen die Franco-Herrschaft heranwuchs, der 1956 nach Paris ging – beschrieb Goytisolo die Lage junger Maghrebiner „zwischen den Stühlen zweier Zivilisationen“ als überformt durch „einen inneren Bruch oder eine Zerrissenheit des Gefühlslebens, die beinahe immer zu einer tiefen und unüberwindlichen Enttäuschung“ führt: „Ihre Frustration, ihr Zorn, ihre Ungewissheit über die eigene Identität, ihre Ablehnung des Fremdenhasses und des Rassismus, ihr Rückzug auf extrem individuelle Werte haben musikalischen Ausdruck in ihrer eigenen Musik, im Rai gefunden.“

Mehr noch, Goytisolo konnte vor Augen führen, dass, „seit den tastenden Anfängen unserer spanischen Sprache (...) der Muslim immer der Spiegel gewesen ist, in dem wir uns auf eine bestimmte Weise reflektiert finden, ein äußeres Bild von uns, das uns hinterfragt und beunruhigt.“ Aufgrund des dialektischen Verhältnisses „zwischen Ich und Welt, zwischen Ich und Nicht-Ich, über das sich bekanntlich Identität herstellt, erfüllte der Islam für den christlichen Westen eine auf Opposition und Kontrast abgestellte Funktion der Selbstvergewisserung; seine Rolle war die des Anderen, des ‚Intimfeindes‘, der zu nah ist, um gänzlich exotisch zu erscheinen, und zu geschlossen, eigenwillig und konsistent, um sich domestizieren oder neutralisieren zu lassen“ („Kibla – Reisen in die Welt des Islam“, 2000). Schon damals meinte er mit dem „christlichen Westen“ nicht nur die Anrainer des Mittelmeers, sondern Europa als Ganzes.

Nach den furchtbaren Anschlägen des 11. September in New York vermochte er Entsetzen und tiefe Betroffenheit „als New Yorker nicht in Worte zu fassen – die Stadt ist Teil meines intellektuellen und affektiven Lebens, ich habe sie öfter und ausgiebiger erlaufen als Madrid oder Barcelona“.

Unzählige Fragen stürmten auf ihn ein, „Fragen an mich selbst“, die sich nach dem Massaker vom 11. März 2004 in Madrid wiederholten, auch, „weil sie aus Geringschätzung, Verantwortungslosigkeit und Unverfrorenheit“ missachtet worden waren: „Was wir von den Muslimen, die in Europa leben, verlangen müssen, ist die Einhaltung der Gesetze. Zugleich müssen wir ihnen die Rechte anbieten, die alle europäischen Bürger genießen, und ihre Integration fördern, also individuelle Freiheit, Gleichstellung der Frau, Achtung des Glaubens und der Traditionen, sofern sie der Rechtsprechung des Aufnahmelandes nicht widersprechen. Also: Menschenrechte statt Theokratie. Sozialprogramme statt Marginalisierung. Und keine Zwangsjacke kultureller ‚Identität‘, auf beiden Seiten nicht.“

Juan Goytisolo, der kritische Vermittler zwischen der westlichen und der arabischen Welt, zwischen den Kulturen und Religionen, 2014 mit dem angesehensten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, dem Premio Cervantes geehrt, starb am Pfingstsonntag im Alter von 86 Jahren in seiner Wahlheimat Marrakesch.

Er soll, berichtet die Tageszeitung „El País“, auf dem zivilen Friedhof von Larache in Marokko beerdigt werden, dort, wo bereits der französische Schriftsteller Jean Genet die letzte Ruhe gefunden hat, nach Norden gerichtet, mit Blick auf den Atlantischen Ozean.

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