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Jelena Schwarz: „Buch auf der Fensterbank“ – Ausgedampft bis aufs Salz sind alle Wörter

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Von: Michael C. Braun

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Jelena Schwarz (1948-2010). Foto: Natalia Kovaleva
Jelena Schwarz (1948-2010). © Natalia Kovaleva

Das große Abenteuer der Fantasie: „Buch auf der Fensterbank“ lässt die russische Poetin Jelena Schwarz wiederentdecken.

Die Dichtung der Moderne ist reich an Beispielen einer eigensinnigen Theologie. In der Vorstellungswelt der russischen Dichterin Jelena Schwarz (1948-2010) dürfen wir uns zum Beispiel das Wort Gottes als einen großen Baum vorstellen, der behängt ist mit menschenähnlichen Früchten und umlagert von Tieren und biblischen Gestalten. Propheten hängen hier „wie Wildkirschen“ an den Ästen, die Judith des Alten Testaments fliegt „als Eichhörnchen umher“, Abraham, der Urvater der Juden, „glänzt als Zitrone“.

Die Betrachtung der physischen wie der geistigen Welt verwandelt Schwarz in ein großes Abenteuer der Fantasie. So identifiziert sich das lyrische Ich ihrer Gedichte auch mit dem biblischen König David, der nackt vor seinem Volk tanzt. Jelena Schwarz macht daraus ein Lob der Ekstase und ein Bild der Befreiung: „Ausgedampft bis aufs Salz sind alle Wörter, / In Throne verwandelt sind alle Wörter, / Und wie eine Schlange biegt sich das Feuer. / Knistert, Haare, rasselt, Knochen, / Werft mich als Span in das Feuer für Gott.“

Bis kurz vor dem Ende der alten Sowjetunion durfte Schwarz keine einzige Zeile in offiziellen Verlagen publizieren, ihre Texte kursierten seit 1975 als Privatdrucke im „Samisdat“, nach 1989 wurde sie in kurzer Zeit zur Erfolgsautorin in Russland. Im deutschen Sprachraum blieb sie lange unbekannt. 1999 legte dann der streitbare Übersetzer Alexander Nitzberg in einem Düsseldorfer Kleinverlag eine sehr wortgetreue, die Reime des russischen Originals streng nachbildende Auswahl-Übertragung vor.

Ein Anlauf von Frankfurt aus

Das Buch

Jelena Schwarz: Buch auf der Fensterbank und andere Gedichte. A. d. Russ. v. Daniel Jurjew. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 108 S., 20 Euro.

Die in Frankfurt lebende Olga Martynova und ihr 2018 verstorbener Ehemann Oleg Jurjew waren mit Schwarz sehr befreundet. Dieser Freundschaft ist es zu verdanken, dass nun ein zweiter Anlauf zur Entdeckung von Jelena Schwarz in Deutschland unternommen worden ist. Übersetzt hat diesmal Daniel Jurjew, Olga Martynovas und Oleg Jurjews Sohn. Er hat einen Band komponiert, der die mythologische Leidenschaft und die assoziationsreiche Bilderwelt von Jelena Schwarz eindrucksvoll demonstriert.

Den Rahmen dieser Auswahl bilden zwei große Zyklen, in denen die Autorin ihre Lust am poetischen Maskenspiel ausagiert. Im ersten Zyklus über die kreativen Ausflüge einer Füchsin erfindet Schwarz als Verfasser den fiktiven Poeten „Arno Zart“, eine Reverenz an den Naturalisten Arno Holz und an Wolfgang Amadeus Mozart. In einem weiteren Zyklus begibt sie sich auf die Spuren der altrömischen, von Properz erwähnten Dichterin Cynthia, deren Texte nicht überliefert sind, elegante Erfindungen also im Gewand einer Nachdichtung.

Bei der teils spielerischen, teils feierlich-ernsten Anverwandlung religiöser Motive werden Pathos, Sarkasmus und lässige Groteske kombiniert: „So stehe ich also vor Gott in Wehmut / Und halte in der zitternden Hand meinen Schädel, – / Mein Gott, was fang ich mit ihm an? / Soll ich in die Augenhöhlen spucken?“

Gegen die Konventionen

Daniel Jurjew wählt ein freieres Übersetzungsverfahren als Nitzberg in seiner Erstübersetzung. Und das mit gutem Recht. Denn die klassischen Vers-Konventionen werden hier durchweg konterkariert, und wenn dann doch gereimt wird, dann im ironischen Tonfall: „Der Dichter mag sich selbst, ihn giert’s nach Lobesworten, / In eignen Diensten ist er Gärtner wie auch Garten. / In seinem Metrum, dem zerfetzten, wo Dionysos haust, / Da springt ein Straßenkater leeren Magens bissig und faucht.“

Selbst einem Abfallhaufen vermag die Dichterin eine große Schönheit zu entlocken. Die Müllhalde wird als „rosa mystica“ besungen. Es ist eine Mystik, die sich mit taghell ausgeleuchteter Gegenwart verbindet.

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