Jan Carson: „Firestarter“ –Der Hass und die Wunder

Jan Carsons wilder, dunkler Belfast-Roman „Firestarter“.
Einen wilden, die Realität immer wieder nonchalant und ein bisschen gespenstisch überflügelnden Roman hat die Nordirin Jan Carson geschrieben. In Belfast spielt „Firestarter“, dort schürt ein Videos ins Internet stellender Maskierter die Wut, eine Art neue „Troubles“, indem er dazu aufruft, Feuer zu legen. Was auch massenhaft und in einem schrecklich trockenen Klimawandel-Sommer immer erfolgreicher passiert. In Jan Carsons Belfast gibt es aber auch Kinder mit besonderen Fähigkeiten. Ein Mädchen, das mit Flügeln geboren wird. Ein Junge mit Rädern an den Füßen. Eine „Tagesvampirin“, die immer Licht braucht. Einen Jungen, der aus jeder Flüssigkeit, selbst einer Tasse Tee, die Zukunft lesen kann. „Selbst ein zugedrehter Wasserhahn macht im Angst, denn er will nicht schon morgens beim Zähneputzen mit der Zukunft konfrontiert werden.“ Die Eltern dieser „Unglückskinder“ haben eine Selbsthilfegruppe gegründet.
Zwei Väter, zwei Ich-Erzähler spielen die Hauptrolle, Männer, wie sie in Belfast sicher nicht ungewöhnlich sind. Der eine, Sammy Agnew, hat in jungen Jahren hitzköpfig, gewalttätig aufseiten der Protestanten mitgemischt, einmal einen Katholiken erschossen, sich dann mit Frau und Kindern gleichsam zur Ruhe gesetzt. Aber sein Gewissen verfolgt ihn, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Jetzt sieht er im Fernsehen die Berichte über den geheimnisvollen „Firestarter“, erkennt darin seinen älteren Sohn Mark. Erkennt, dass der seinen Hass und seine Gewalttätigkeit geerbt hat – außerdem schlauer ist, kälter. Mit seiner Frau kann er darüber nicht reden, zu lange schon tun beide so, als sei mit dem offensichtlich psychopathischen Mark alles in Ordnung. Oder als werde schon noch alles in Ordnung kommen, sobald er älter ist.
So geht Sammy Agnew, er muss einfach mit jemandem reden, eines Tages zum Arzt – denn der hat ja eine Schweigepflicht, nicht wahr? Er landet im Gesundheitszentrum zufällig bei Jonathan Murray, ebenfalls Vater, ebenfalls mit großen Sorgen.
Wenn auch Sorgen ganz anderer Art: Tochter Sophie ist noch ein Baby, spricht noch nicht, aber sie könnte nach ihrer Mutter kommen – diese ist eine Sirene. Ein Telefonanruf genügte ihr, Dr. Murray zu einem Hausbesuch und dann in ihr Bett zu locken. Sie lebte eine Weile bei ihm, gebar das Kind, verschwand (durch die Kanalisation?). Nun denkt er allen Ernstes daran, Sophie – zu was ist er Arzt? – die Zunge herauszuoperieren, ehe sie sprechen gelernt hat. Jonathan Murray versucht außerdem, den „Patienten“, der da bei ihm sitzt, davon zu überzeugen, seinen Sohn der Polizei zu melden. Er nimmt Sammy das Versprechen ab, es innerhalb von zwei Tagen zu tun.
Das Buch
Jan Carson: Firestarter. Roman. A. d. Englischen v. Stefanie Schäfer. Liebeskind, München 2023. 360 S., 24 Euro.
Die in Belfast lebende Jan Carson verhält sich beim Schreiben ihres Romans ein bisschen wie ihre Figur. Im übertragenen Sinn legt sie Spritze, Skalpell, Tupfer, Desinfektion, Nahtmaterial, Antibiotikum (falls sich etwas entzündet, die Mundhöhle ist heikel) bereit, tut wie Dr. Murray, als sei alles ganz normal, alles unter Kontrolle und den Regeln einer OP bzw. eines Romans entsprechend, um dann das Unglaubliche, Erschreckende zu denken bzw. aufzuschreiben. Sie präsentiert plausible Details – wie kommt ein Junge mit Rädern an den Füßen zurecht? Was muss eine Tagesvampirin beachten? –, es ist, als zwinkere sie der Leserin zu.
Sie geht mit uns auf die Belfaster Straßen, sie lässt uns zuhören, zusehen und riechen, sie erzählt uns von durchschnittlichen Menschen in einer trotz ihrer Vergangenheit ziemlich durchschnittlichen Stadt. Lange Zeit ist es heiß, staubig, stinkend, im Spätsommer aber wird es wie aus Kübeln schütten – auch das kennt man inzwischen aus vielen Orten der Welt und hält es fast für normal. Jan Carson lädt all das auf, lädt den Alltag aus Einkaufen, Saubermachen, Arztbesuch, Fernsehgucken mit Unerklärlichem auf, hinterlegt ihn mit Dunkelheit.
Erst brennt es klein, dann groß und größer, Autos brennen, Häuser brennen; ein Wunder eigentlich, dass bisher niemand ums Leben kam, denn die Polizei kommt dem Firestarter nicht auf die Spur. Erst hat Jonathan eine „verrückte“ Patientin am Telefon („psychisch krank“ verbessert er die Sprechstundenhilfe), dann eine Sirene in der Badewanne, dann ein Kind, das vom Wasser angezogen ist und herrliche Haare hat, die immer feucht aussehen. Jonathan Murray mag sich gar nicht ausdenken, welches Unheil dieses kleine Mädchen anrichten kann, sobald es jeden Menschen mit seiner Stimme zu einfach allem verführen, jedem Menschen seinen Willen aufzwingen kann. Denn ist es nicht bei Sophies Mutter so: „Der gesunde Menschenverstand verlässt mich jedes Mal, wenn sie den Mund aufmacht.“
Sammy und Jonathan versuchen das Richtige zu tun. Freilich ist Sammy Agnew damit arg spät dran, jetzt, wo sein Sohn erwachsen ist. Freilich hat Jonathan Murray nicht verstanden, dass er sein Problem nicht mit einer OP lösen kann. Beider Tun wird einen eher unerwarteten Ausgang haben, aber am Ende – „Firestarter“ ist kein Kriminalroman – wird das nicht so wichtig sein. Es ist der Kampf mit sich selbst, mit Schuldgefühlen vor allem, es ist die Bestürzung darüber, wie viele Fehler man schon gemacht hat im Leben, von der Jan Carson meisterhaft erzählt.