Iwans Sprung

Anna Dankowtsewa setzt auf slawische Mythen
Von ISABELLE ERLER
Der 14-jährige Iwan findet sein Leben langweilig. Nichts passiert ihm, er hat sich nie den Arm gebrochen wie andere Jungen, war nie Zeuge eines Banküberfalls und fand auch keine alten Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Seine Tante Baba Jaga, bei der der elternlose Junge lebt und die manche für eine Hexe halten, sieht jedes Unglück voraus und behütet ihn erfolgreich vor jeglicher Gefahr.
Doch mit dem plötzlichen Auftauchen eines geheimnisvollen Koboldmädchens, das sich selbst als Schischka vorstellt und Iwans Gedanken lesen kann, wird plötzlich alles anders. Schischka erzählt ihm, dass er eigentlich der echte und wahre Zarensohn Iwan Zarewitsch aus dem Dreimalneunten Zarenreich ist und dass seine Eltern vom Bösen Idolischtsche, einem geheimnisvollen Zauberer, entführt wurden. Iwans Aufgabe, so Schischka, besteht nun darin, das Zarenreich und seine Eltern von diesem bösen Zauberer zu erlösen. Mit der überraschenden Zustimmung und Hilfe seiner Tante machen sich Iwan und das Mädchen auf ins märchenhafte Zarenreich. Und weil die Tante ihre Fürsorglichkeit nicht von heute auf morgen ablegen kann, ruft sie noch einen kleinen, zotteligen Hausgeist mit Namen Domowoj herbei, der Iwan auf seinem großen Abenteuer begleiten soll.
Ruhig und nahezu selbstverständlich lässt der Ich-Erzähler Iwan all die geheimnisvollen Figuren und fantastischen Begebenheiten in sein bisher so eintöniges Leben treten. Dank dieser Gelassenheit kann der Leser den Sprung in die Moskwa - dieser Fluss nämlich ist alle 13 Jahre für wenige Stunden das Tor zum Dreimalneunten Zarenreich - nachvollziehen und die reale Welt für eine kleine Weile gegen eine märchenhafte eintauschen.
Was Iwan, im Gegensatz zum Leser, nicht weiß, ist, dass weitere Figuren sich in seine Heimat aufmachen. In den Bericht des Zarensohns drängt sich immer wieder ein auktorialer Erzähler. Von diesem erfährt der Leser, dass Iwans beste Freundin Ksjucha, der er kurz vor dem Aufbruch von seiner Mission erzählt hat, heimlich beobachtet, wie der Freund, Schischka und der Hausgeist mitten in der Nacht in die kalte Moskwa springen - und dass sie ihnen folgt. Um sie zu retten, springt auch noch der Polizist Sergeant Häslein hinterher, den es, seinem Namen zum Trotz, stets zu heldenhaften Taten treibt. Schließlich hüpfen noch die zwei üblen Gaunerbrüder Kauz und Kaktus in die eisigen Fluten. Sie haben Baba Jaga, Iwan und Schischka belauscht und so von unfassbaren Reichtümern erfahren, die sie in ihren Besitz bringen wollen.
In einer geheimnisvollen Winterlandschaft des Dreimalneunten Zarenreichs erleben die drei Grüppchen eine Reihe von gefährlichen Abenteuern. Wie ihm bestimmt ist, gelingt es Iwan schließlich, den Bösen Idolischtsche zu beseitigen und das Zarenreich zu retten. Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Als Iwan nämlich wieder in seinem Bett in Baba Jagas Wohnung aufwacht, erfährt er, dass sich seine Freundin Ksjucha noch in der Gewalt des Bösen Idolischtsche befindet. Was er nun tut? Das weiß nur Anna Dankowtsewa. Dem Leser bleibt zu hoffen, dass sie ihm dieses Wissen nicht vorenthält.
Für Kenner der russischen Kultur hat die 1961 in Zentralrussland geborene und in Weimar aufgewachsene Autorin eine Hommage an das russische Volksmärchen geschrieben. Bis auf Häslein, Kauz und Kaktus blickt jede der Figuren auf eine lange Tradition zurück, die Anna Dankowtsewa mit ihrem Buch wach halten möchte. Aber auch für Leser, die mit slawischen Mythen nicht so vertraut sind, ist gesorgt. Denn der deutschen Ausgabe ist ein Glossar beigegeben, das alle Figuren erläutert. Jedoch auch ohne diesen Hintergrund ist Die Stadt mit dem blauen Tor ein packender Roman, in den man eintaucht wie Iwan in die Moskwa.
Von der Autorin wird im Übrigen in diesem Frühling ein weiteres Buch bei Diogenes erscheinen: Tanja und der Magier, eine Märchengeschichte.